MEDIENDIENST: Es heißt immer wieder, die sogenannte Balkanroute sei für Flüchtlinge geschlossen. Stimmt das?
Sabine Hess: Der Bau eines Grenzzauns in Ungarn, die Schließung der mazedonischen Grenze und vor allem der sogenannte Flüchtlings-Deal zwischen der EU und der Türkei haben zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen in Europa geführt. Die Reise über die sogenannte Balkanroute ist schwieriger, teurer und gefährlicher geworden. Die Route ist jedoch alles andere als gesperrt. Jeden Tag kommen Hunderte Geflüchtete in Mitteleuropa an.
Gibt es weitere Routen, die eine Rolle spielen?
Es gibt im Wesentlichen zwei: Viele nehmen den Weg durch die „alte“ Balkanroute, also über Griechenland durch Mazedonien bis nach Serbien. Andere weichen auf den Weg von der Türkei nach Bulgarien und dann weiter nach Serbien aus.
Lassen Sie uns zunächst über die "alte" Route sprechen. Wie viele Menschen kommen auf den griechischen Inseln an?
Allein in der Woche zwischen dem 30. Mai und dem 5. Juni hat das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) etwa 350 Einreisen auf den griechischen Inseln gezählt. Viele Boote, die wir in Chios gesehen haben, waren voller Frauen und Kinder. Es sind zum Großteil Menschen, die zu ihren Verwandten nach Nord-Europa wollen.
Wie kommen die Geflüchteten von dort weiter?
Im Moment dürfen sie offiziell gar nicht weiterreisen, denn nach dem EU-Türkei Deal sollen alle, die nach dem 20. März anlanden, dort ein verkürztes Asylverfahren durchlaufen und dann in die Türkei zurückgeführt werden. Doch die Verfahren laufen sehr schleppend an.
Was passiert mit Asylbewerbern, die nicht in der EU umverteilt werden?
Wie wir gehört haben, stellen die griechischen Behörden vereinzelt Dokumente für die Weiterreise aus. Außerdem gibt es Schleuser, die die Überfahrt zum Festland ermöglichen – für viel Geld. Auf dem Festland gibt es offizielle Flüchtlingslager, die vom Militär verwaltet werden. Laut Angaben der Organisation „Medico“ sollen die Lebensbedingungen dort jedoch sehr hart sein. Viele bevorzugen es, in improvisierten Lagern zu kampieren und dort auf die Gelegenheit zu warten, weiter nach Norden zu reisen.
SABINE HESS ist Professorin für Kultur-anthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen, wo sie zu Migration und Grenzregimen forscht. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern hat sie das Projekt "De- and restabilization of the European border regime” ins Leben gerufen. Ihre Forschungsergebnisse dokumentieren sie im Blog HarekAct.
Einige möchten nicht warten und reisen schon jetzt über Mazedonien weiter.
Auch aus Mazedonien erreichen uns Berichte über Gewalt. Wir haben zudem mit Familien gesprochen, die wochenlang zu Fuß durch Mazedonien gewandert sind – vor allem nachts, um die Polizeikontrollen und mafiöse Gruppen zu umgehen, die aus der absolut entrechteten Situation Kapital schlagen und Flüchtlinge ausrauben und zunehmend auch kidnappen. Obwohl Mazedonien seit dem 8. März offiziell keinen einzigen Flüchtling mehr reingelassen hat, schaffen es offenbar noch mehrere Menschen illegal über die Grenze.
Wie ist die Situation auf der Route, die über Bulgarien führt?
Nach Angaben des bulgarischen Innenministeriums sind zwischen Januar und Juni rund 2.000 Geflüchtete an der türkisch-bulgarischen Grenze aufgegriffen worden. In mehreren Fällen wurden sie einfach zurückgeschoben, wie die Organisation Bordermonitoring-EU berichtete. Selbst wenn sie es über die Grenze schaffen, ist die Weiterreise durch Bulgarien äußerst gefährlich. Zum einen gibt es immer wieder Berichte über Festnahmen und Polizeigewalt. Was die Route besonders gefährlich macht, sind zum anderen bewaffnete Bürgerwehren, die an der Grenze patrouillieren. Auch hier sollen kriminelle Organisationen zudem Flüchtlinge ausgeraubt und gelegentlich sogar entführt haben, um Lösegeld von den Familien zu erpressen.
Beide Routen treffen sich in Serbien, Belgrad gilt als eine Art "Drehkreuz". Wie geht es von dort weiter?
Viele versuchen, den Weg nach Ungarn einzuschlagen. Trotz Grenzzaun passieren täglich 30 bis 40 Geflüchtete legal die serbisch-ungarische Grenze über zwei sogenannte "Transitzonen". Das sind in erster Linie Familien mit Kindern. Hinzu kommen viele junge Männer, die illegal über die sogenannte grüne Grenze kommen – und das, obwohl sie auf der ungarischen Seite von Polizisten mit Hunden erwartet werden. Viele versuchen, durch die Theiß oder ihre Nebenarme zu schwimmen – einen Fluss, der entlang der serbisch-ungarischen Grenze fließt. Häufig erweist sich der Grenzübergang als viel schwieriger als angenommen: Es gibt Berichte, dass die ungarische Polizei Geflüchtete gewaltsam in den Fluss zurückschiebt. Dabei sollen mittlerweile mehrere Menschen ums Leben gekommen sein.
Am 2. Oktober soll die ungarische Bevölkerung in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie weitere Flüchtlinge im Rahmen der europäischen Verteilungsprogramme aufnimmt oder nicht. Schon jetzt steht die ungarische Regierung wegen ihrer flüchtlingsfeindlichen Politik in der Kritik. Wie ergeht es Flüchtlingen an den Grenzen Ungarns?
Schlecht. Mit der Fertigstellung des Zauns an der serbisch-ungarischen und kroatisch-ungarischen Grenze vor gut einem Jahr stellen die zwei Transzonen die einzige legale Möglichkeit dar, nach Ungarn einzureisen und Asyl zu beantragen. Vor den Transitzonen warten jeweils über eintausend Menschen, die dort unter erbärmlichen Bedingungen über Tage und Wochen hinweg kampieren. Familien und andere besonders schutzbedürftige Personengruppen werden einzeln hineingelassen, wobei die Auswahlkriterien undurchschaubar und willkürlich sind. Aber selbst wer über die "Transitzone" nach Ungarn kommt, muss damit rechnen, dass der Antrag als "unzulässig" abgelehnt wird – mit der Begründung, dass Serbien ein "sicherer Drittstaat" sei.
Interview: Fabio Ghelli
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