Die amtlichen Statistiken vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind ungenau, und das aus gleich mehreren Gründen. Offiziell haben im ersten Halbjahr 2020 rund 40 Prozent der Asylbewerber*innen Schutz erhalten. Es ist aber nicht so, dass 60 Prozent der Antragsteller*innen abgelehnt wurden. Unter ihnen sind viele Menschen, deren Antrag aus formellen Gründen nicht angenommen wird. Etwa weil ein anderes europäisches Land für sie zuständig ist. Das ist die eine Schwäche der Statistik. Diese ist in Fachkreisen auch weithin bekannt.
Eine längere Version dieses Textes ist im "Asylmagazin" 10-11/2020 vom "Informationsverbund Asyl und Migration" erschienen.
Eine andere Ungenauigkeit aber nicht: In vielen Fällen entscheidet das BAMF, ohne einen individuellen Asylantrag zu prüfen. Und zwar immer dann, wenn es um enge Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen oder subsidiär Schutzberechtigten geht. Das Asylgesetz besagt: Alle Mitglieder der Kernfamilie – also Ehepartner*innen und Kinder – erhalten grundsätzlich denselben Schutzstatus zuerkannt wie Angehörige, deren Asylanträge bereits angenommen wurden. Das ist eine Regelung, die im Sinne der Geflüchteten ist.
Die Regelung täuscht aber ein Stück darüber hinweg, dass die Entscheidungspraxis des BAMF deutlich rigider geworden ist als vor einigen Jahren. Um das zu verstehen, muss man sich ansehen, wer Familienasyl erhalten kann: Vom Familienschutz können unter anderem Angehörige profitieren, die zusammen mit der sogenannten stammberechtigten Person in der Familie einen Asylantrag gestellt haben. In der Praxis sind das aber nur wenige.
Deutlicher häufiger erhalten Angehörige Familienasyl, die später als die "stammberechtige Person" nach Deutschland eingereist sind. Sei es im Zuge des Familiennachzugs oder weil sie sich auf eigene Faust nach Deutschland durchgeschlagen haben. Bei diesen Menschen muss der Asylantrag nicht individuell geprüft werden. Das heißt: Sie erhalten vielleicht einen Flüchtlingsschutz, weil ihr Angehöriger vor drei Jahren Schutz erhalten hat. Über die aktuelle Entscheidungspraxis des BAMF sagt das also wenig aus.
Will man sich genauer ansehen, wie das BAMF heute entscheidet, muss man den Familienschutz herausrechnen, genau wie die sogenannten formellen Entscheidungen (weil zum Beispiel andere Länder zuständig sind). Wenn man das tut, sieht man: Asylbewerber*innen werden immer häufiger abgelehnt beziehungsweise bekommen nur den untergeordneten subsidiären Schutz oder ein Abschiebeverbot. 2019 und 2020 führte nur gut jeder dritte individuelle Asylantrag zu einem Schutzstatus; nur jede*r zehnte Antragssteller*in erhielt einen Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
Wie sich die Entscheidungspraxis des BAMF in den vergangenen Jahren verändert hat, sieht man anhand der Entscheidungen – ohne Familienschutz – für Antragsteller*innen aus vier der Haupt-Asylherkunftsstaaten: Syrien, Irak Afghanistan und Eritrea.
1. Syrien
Fast alle syrischen Asylsuchenden, die seit 2011 nach Deutschland gekommen sind, haben hier Schutz erhalten. Das hat sich nicht geändert. Doch sie erhalten inzwischen fast immer den untergeordneten subsidiären Schutz und nicht – wie früher – Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. 2015 erhielten 99,7 Prozent der syrischen Schutzsuchenden, deren Antrag individuell geprüft wurde, einen Flüchtlingsstatus gemäß Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Im ersten Halbjahr 2020 wurden nur 4,8 Prozent der individuellen Antragsstellenden als GFK-Flüchtlinge anerkannt, 92,8 Prozent als subsidiär Schutzberechtigte. Subsidiär Schutzberechtigte bekommen eine Aufenthaltserlaubnis für nur ein Jahr und können ihre Angehörigen nur bedingt nach Deutschland nachziehen lassen.
2. Afghanistan
Drei Viertel der afghanischen Antragsteller*innen bekamen 2015 Schutz in Deutschland (ohne Familienschutz). Inzwischen sind es rund die Hälfte. Auch sie erhalten derzeit nur sehr selten Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Die meisten von ihnen bekommen eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund eines Abschiebungsverbots.
3. Irak
Während im Jahr 2015 noch 99 Prozent der irakischen Schutzsuchenden, deren Asylantrag individuell geprüft wurde, einen positiven Asylbescheid bekamen, waren es im Jahr 2020 lediglich 17 Prozent.
4. Eritrea
2015 erhielten fast alle Schutzsuchenden aus Eritrea Schutz in Deutschland. Im ersten Halbjahr 2020 ist die Quote der positiven Bescheide auf knapp 70 Prozent gesunken. Auch in ihrem Fall hat sich die Entscheidungspraxis des BAMF stark verändert: Vor fünf Jahren erhielten 95 Prozent von ihnen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Im ersten Halbjahr 2020 waren es lediglich fünf Prozent.
An der Entwicklung der Schutzquoten wird deutlich, dass die Entscheidungspraxis des BAMF restriktiver geworden ist. Anhand der offiziellen Asylstatistik wird diese Entwicklung nicht ersichtlich. Mehr Transparenz bei den Statistiken wäre wünschenswert.
Zugleich zeigt sich, dass Gerichte weniger restriktiv urteilen als das BAMF. Seit 2017 zogen etwa die Hälfte aller Antragsteller*innen vor Gericht. In etwa einem Drittel der Fälle, in denen es zu einem Urteil kam, waren die Klagen erfolgreich.
Besonders signifikant ist das bei Geflüchteten aus Afghanistan: Seit 2017 wurde über die Hälfte der BAMF-Bescheide von den Verwaltungsgerichten korrigiert. Zwischen Januar und Oktober 2020 waren rund 60 Prozent der Klagen afghanischer Asylbewerber*innen, über die die Gerichte geurteilt haben, erfolgreich.
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