Seit acht Jahren gilt ein generelles Abschiebeverbot nach Syrien. Das hatten Bund und Länder 2012 wegen des anhaltenden Bürgerkriegs beschlossen und mehrfach verlängert. Der Abschiebestopp läuft nun aus, da sich die Innenminister*innen nicht auf eine weitere Verlängerung einigen konnten.
Nachdem ein syrischer Flüchtling im Oktober einen Menschen in Dresden ermordet hatte, haben mehrere Politiker*innen dafür plädiert, Straftäter und Gefährder nach Syrien abzuschieben. Die Forderung ist sehr umstritten: Sollte Deutschland tatsächlich Geflüchtete nach Syrien abschieben, wäre die Bundesrepublik der erste EU-Staat, der Menschen zurück in das Bürgerkriegsland schickt. Dafür müsste es mit der Regierung von Bashar Al-Assad zusammenarbeiten.
Dürfen Menschen nach Syrien abgeschoben werden?
Die rechtlichen Hürden dafür sind hoch. Menschen, die eine "Gefahr für die Sicherheit des Landes" darstellen, dürfen zwar nach der Genfer Flüchtlingskonvention abgeschoben werden (Artikel 33, Punkt 2). Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat vor ungefähr 30 Jahren geurteilt: Wenn ein Staat eine Person abschiebt, muss er sicher gehen, dass ihr im Zielland keine Gefahr für Leib und Leben droht.
Die Lage in Syrien ist weiterhin dramatisch, attestiert der neue Bericht des UN-Untersuchungssauschuss zu Syrien: Auch nach dem Waffenstillstand, der im März ausgerufen wurde, sind Entführungen und willkürliche Festnahmen von Zivilist*innen weit verbreitet. In einzelnen Regionen finden noch Kriegshandlungen statt. Ermordungen, Plünderungen und sexuelle Gewalt sollen zugenommen haben – sowohl seitens der Armee als auch von lokalen Milizen.
Auch das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) beschreibt die Gefahren für die Zivilbevölkerung in seinem jüngsten Lagebericht. Es unterscheidet aber zwischen Gebieten mit einem hohen und solchen mit einem niedrigen Maß an willkürlicher Gewalt. In Damaskus und in der Küstenregion um die Stadt Tartus soll es nahezu kein Risiko für Zivilist*innen geben. Auf diese Einschätzung berufen sich Befürworter*innen von Rückführungen von Gefährdern nach Syrien: Demnach soll im Einzelfall geprüft werden, ob eine Abschiebung je nach Herkunftsort möglich ist.
Aus welchen Ländern werden Menschen zurück nach Syrien geschickt?
Nach Angaben verschiedener internationaler Agenturen und Menschenrechtsorganisationen auf Anfrage des MEDIENDIENSTES schieben derzeit nur zwei Länder systematisch Menschen nach Syrien ab: der Libanon und die Türkei. Viele Ab- und Zurückschiebungen finden unter Gewalteinsatz statt.
Laut Amnesty International hat auch Jordanien syrische Geflüchtete zurückgeschoben – allerdings nicht nach Syrien, sondern in das Niemandsland an der syrischen Grenze. Abschiebungen nach Syrien sollen Amnesty zufolge auch vereinzelt aus Russland stattgefunden haben. In Europa haben bislang nur Dänemark und Schweden ihre Asylpolitik in Bezug auf Schutzsuchende aus Syrien geändert: Die schwedische Migrationsagentur erteilt seit 2019 syrischen Asylsuchenden nicht mehr automatisch Schutz, wenn sie aus sicheren Gebieten kommen. In Dänemark werden die Aufenthaltstitel von Syrer*innen aus Damaskus und Umgebung nicht mehr verlängert. Abschiebungen haben bislang nicht stattgefunden.
Was geschieht mit Rückkehrer*innen in Syrien?
Berichten von internationalen Organisationen zufolge werden viele syrische Geflüchtete, die – freiwillig oder gezwungenermaßen – nach Syrien zurückkehren, festgenommen, angehört und inhaftiert. Das gilt besonders für Anhänger regierungsfeindlicher Gruppen wie etwa jihadistischen Milizen.
Mehrere Zeugen haben davon berichtet, dass Zurückgekehrte gleich nach Ankunft in Syrien von den Sicherheitskräften angehört wurden. Viele von ihnen wurden daraufhin inhaftiert oder umgehend in die Armee einberufen. Willkürliche Inhaftierungen finden auch in angeblich sicheren Teilen des Landes wie Damaskus statt, wie der UN-Ermittlungsausschuss kürzlich berichtet hat.
Entführungen und Inhaftierungen gelten der EASO zufolge als besonders besorgniserregendes Phänomen: Mehrere Zeugen haben von Hinrichtungen, Folter und Gewalt in Hafteinrichtungen berichtet. Dem internationalen "Syrian Network for Human Rights" zufolge sind bis Mitte 2019 mehr als 600 Rückkehrer*innen spurlos verschwunden. Außerdem pflegt die syrische Regierung nach Angaben des "European Institute of Peace" eine Fahndungsliste mit etwa drei Millionen Namen. Besonders betroffen sind Journalist*innen, NGO-Mitarbeiter*innen, Lokalpolitiker*innen und Rettungshelfer*innen. Auch Menschen mit vermeintlichen Beziehungen zum Islamischen Staat im Irak und der Levante gelten als Staatsfeinde.
Welche Folgen hat das Ende des Abschiebestopps?
Sollten sogenannte Gefährder nach Syrien abgeschoben werden, droht ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Folter oder Schlimmeres, sagt Politikwissenschaftler und Nahost-Experte René Wildangel gegenüber dem MEDIENDIENST. "Sollte Deutschland tatsächlich beschließen, Menschen nach Syrien abzuschieben, hätte das weitere schwerwiegende Folgen", so Wildangel. Denn Abschiebungen würden nur in Kooperation mit der Assad-Regierung erfolgen können. "Das würde zu einer Normalisierung der Beziehungen zu einer Regierung führen, die bewiesenermaßen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat und weiterhin Menschenrechte mit Füßen tritt", so der Politikwissenschaftler.
Schon jetzt verunsichert das Ende des Abschiebestopps die in Deutschland lebenden Syrer*innen zutiefst, sagt Wildangel. Denn es könnte ein Einfallstor für andere rückkehrfördernde Maßnahmen werden, die sich nicht nur auf "Gefährder" begrenzen: "Ausgerechnet in einem Moment, in dem Syrer*innen versuchen, ein neues Leben in Deutschland aufzubauen, wird ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen."
Von Fabio Ghelli
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