Seit 2009 gibt es den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), der mit wissenschaftlicher Expertise "kritische Politikbegleitung" und Öffentlichkeitsarbeit betreiben will. Die neun Wissenschaftler im Gremium erarbeiten Analysen und Handlungsempfehlungen und legen jedes Jahr ein ausführliches Gutachten dazu vor. Das aktuelle Jahresgutachten zieht eine Bilanz der vergangenen fünf Jahre. Hier sehen die Wissenschaftler fünf Kernbereiche, in denen Reformbedarf bestehe: auf dem Arbeitsmarkt, im Bereich Bildung, bei der europäischen Flüchtlingspolitik, der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und der institutionellen Gleichstellung des Islam.
Ein positives Fazit zieht SVR-Vorsitzende Christine Langenfeld bei der Gesetzgebung im Bereich Zuwanderung und Arbeitsmarkt. Mit Regelungen wie der Blue Card sei ein Paradigmenwechsel zu erkennen, "weg von der früheren Regel keine Einwanderung ohne Arbeitsvertrag", hin zu einem "kleinen Punktesystem". In wenigen Jahren sei ein Wandel von einem restriktiven zu einem liberalen Einwanderungsland erfolgt. Mit Blick auf den Fachkräftebedarf betonen die Wissenschaftler, dass Einwanderung auch künftig notwendig sein werde – unabhängig von besserer Qualifizierung der deutschen Bevölkerung und besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Doch trotz aller Fortschritte fehle nach wie vor eine Migrationspolitik "aus einem Guss". Dafür fordert der SVR einen "Nationalen Aktionsplan Migration", der Entwicklungen in den Bereichen Demografie, Ökonomie, Hochschule, Arbeitsmarkt, Soziales, aber auch Flucht in den Blick nimmt und bestmöglich steuert. Ein solcher Aktionsplan könne die Grundlage für ein "zuwanderungspolitisches Kommunikationskonzept" sein, so Langenfeld. Denn bislang seien die verbesserten Regelungen noch nicht bekannt genug. "Migrationsmanagement ist komplexer geworden als in den 60er Jahren", sagt etwa Heinz Faßmann von der Universität Wien. Ein Nationaler Aktionsplan könne dabei helfen, eine Politik "weg von Einzelinteressen, hin zu den Gesamtinteressen" einzuführen.
Ernüchternd fällt das Urteil der Experten besonders im Bereich Bildung aus: „Der Institution Schule gelingt es noch zu wenig, die Startnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund auch nur annähernd auszugleichen“, so Langenfeld. Schulen müssten „den Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft“ erst noch lernen und sich ihrer Verantwortung in einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft erst noch stellen.
Integrationsbarometer:
Mehrheit betrachtet Islam nicht als Teil Deutschlands
"Kernstück" des Jahresgutachtens ist das Integrationsbarometer, das alle zwei Jahre erhoben wird. Es messe "die Befindlichkeiten" beim Thema und ermittle das Integrationsklima. Erstmals wurden dabei auch Fragen zur institutionellen Gleichstellung des Islam gestellt. Hier zeigen sich die Wissenschaftler bei der Vorstellung zufrieden und zuversichtlich: Das Integrationsklima sei "anhaltend freundlich", in Schulnoten umgerechnet gaben Befragte mit und ohne Migrationshintergrund in allen bisherigen Barometern der Integration in Deutschland eine Zwei ("gut").
Mit Blick auf den Schwerpunkt finden sich allerdings Ergebnisse, die in beide Richtungen interpretiert werden können: (Lediglich) eine knappe Mehrheit der rund 5.660 Befragten mit und ohne Migrationshintergrund befürwortete islamischen Religionsunterricht an Schulen (51 mit bzw. 55 Prozent ohne Migrationshintergrund). Etwa zwei Drittel aller Befragten sprechen sich dafür aus, dass islamische Theologie an deutschen Universitäten gelehrt wird.
Bei Fragen der Ausübung von Religionsfreiheit fielen die Werte deutlich niedriger aus: Eine Befreiung vom Sport- bzw. Schwimmunterricht aus religiösen Gründen lehnten 68 Prozent mit bzw. 76 Prozent ohne Migrationshintergrund ab. Auch das Recht für muslimische Lehrerinnen, an staatlichen Schulen Kopftuch zu tragen, wollen lediglich 45 mit bzw. 37 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund umgesetzt sehen.
Die Bewertung des Satzes „Der Islam ist ein Teil Deutschlands“ wird ebenfalls mehrheitlich verneint: 53 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund lehnten die Aussage „eher“ oder „voll und ganz“ ab, immerhin 45,2 Prozent stimmten der Aussage zu. Die Bewertung der Ergebnisse durch den Sachverständigenrat fiel entsprechend ambivalent aus: „Wer glaubt, daraus eine generelle islamskeptische oder gar islamfeindliche Haltung der Bevölkerung ableiten zu können, der irrt. Wer jedoch die Augen vor diesem Thema verschließt und meint, es müsse in der Weiterentwicklung der institutionellen Gleichstellung und in den interreligiösen Beziehungen nichts geschehen, der irrt ebenfalls.“
Von Ferda Ataman, MDI
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