Der Artikel ist bereits am 14. Oktober 2021 erschienen. Aus aktuellem Anlass präsentieren wir ihn erneut.
Elf Jahre lang, von 2000 bis 2011, beging der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) rassistische Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle, ohne aufgehalten zu werden. Der Verfassungsschutz und die Polizei vermuteten die Täter*innen fälschlicherweise im Milieu der Organisierten Kriminalität.
Das komplette Infopapier "Rechtsextreme in Sicherheitsbehörden"
>> zum Download (pdf)
(Chronik rechter Vorfälle in Behörden / Recherche zu Gegen-Maßnahmen von Bund und Ländern)
Seitdem versuchen die Behörden, aus den Fehlern von damals zu lernen. Dazu gehört, stärker gegen Rechtsextreme in den eigenen Reihen vorzugehen. Welche Maßnahmen haben Bund und Länder getroffen?
Eine MEDIENDIENST-Recherche zeigt:
Einstellungsverfahren
Um Rechtsextreme gar nicht erst in Sicherheitsbehörden einzustellen, fordern Fachleute, die Landesämter für Verfassungsschutz anzufragen, ob Bewerber*innen in der Vergangenheit durch rechtsextremes Verhalten aufgefallen sind.
- In nur sechs Bundesländern führt die Polizei für alle Bewerber*innen solche Abfragen durch (Bayern, Bremen, Hamburg, NRW, Rheinland-Pfalz, Saarland).
- In den anderen Bundesländern fragt die Polizei die Daten entweder nur bei Verdacht (Brandenburg, Hessen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) oder gar nicht an (Baden-Württemberg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern , Niedersachsen, Sachsen, Thüringen).
- Bundespolizei, Bundesverfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Bundeswehr hingegen führen diese Regelabfragen durch.
Wiederholte Überprüfungen im Laufe des Berufs
- Hamburg wiederholt als einziges Bundesland die Anfragen beim Verfassungsschutz zu rechtsextremen Aktivitäten von Polizist*innen alle zehn Jahre.
- Alle anderen Bundesländer wiederholen die Prüfungen nicht (Bayern, Bremen, NRW, Rheinland-Pfalz, Saarland) oder fragen die Daten beim Verfassungsschutz sowieso grundsätzlich nicht an (siehe oben).
- Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Bundesverfassungsschutz wiederholen die Überprüfungen ihrer Mitarbeiter*innen in regelmäßigen Abständen, die Bundeswehr hingegen nicht.
Unabhängige Polizei-Beschwerdestellen
Polizeibeschwerdestellen und Polizeibeauftragte sind Anlaufstellen für Betroffene von polizeilichem Fehlverhalten, wie etwa rassistischen oder rechtsextremen Handlungen oder Äußerungen. Auch Polizist*innen können sich bei ihnen melden.
- 14 Bundesländer haben mittlerweile Polizeibeauftragte oder Beschwerdestellen eingerichtet oder planen die Einrichtung.
- Nur Bayern und das Saarland haben keine solche Stellen.
- Jedoch sollten diese Stellen, um wirksam zu sein, von der Innenverwaltung unabhängig sein. Das ist bisher in nur 7 von 16 Bundesländern der Fall: Baden-Württemberg, Berlin (im Aufbau), Bremen (im Aufbau), Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein haben Polizeibeauftragte, die am Landesparlament angesiedelt sind.
Extremismusbeauftragte
Ebenfalls fordern Fachleute, Extremismusbeauftragte in den Behörden einzurichten. Das sind behörden-interne Ansprechpartner*innen bei Verdacht auf rechtsextreme Haltungen. Sie unterstützen Präventionsmaßnahmen und organisieren Fortbildungen.
- Nur fünf Bundesländer haben Extremismusbeauftragte in ihren Landespolizeien eingesetzt (Berlin, Brandenburg, NRW, Sachsen und Sachsen-Anhalt ).
- Die Mehrheit der Bundesländer hat keine solchen Stellen (Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, Thüringen).
- Bei der Bundespolizei gibt es ebenfalls keine*n Extremismusbeauftragte*n. Beim Bundeskriminalamt gibt es für diese Aufgabe einen Wertebeauftragten, bei der Bundeswehr die „Koordinierungsstelle für Extremismus-Verdachtsfälle“.
Fortbildungen zu Rassismus und Rechtsextremismus
Expert*innen empfehlen, dass die Themen Rechtsextremismus und Rassismus in der Aus- und Fortbildung bei der Polizei eine größere Rolle spielen sollen. Auf Nachfrage teilen alle Innenministerien der Länder mit, dass Rassismus und Rechtsextremismus behandelt werden.
- Lediglich Hessen nennt ein konkretes Modul im Lehrplan der Polizeiausbildung, das sich ausdrücklich der Extremismusprävention in den eigenen Reihen widmet.
- NRW gab als einziges Bundesland an, verpflichtende Fortbildungen zu Rassismus und Rechtsextremismus für alle Einsatzkräfte durchzuführen.
- Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Bundeswehr nennen verpflichtende Fortbildungen für alle Einsatzkräfte, das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei hingegen nicht.
Rassismusstudien in der Polizei
Fachleute fordern, unabhängige Rassismus-Studien in den einzelnen Sicherheitsbehörden durchzuführen.
- Nur fünf Bundesländer haben Rassismusstudien für ihre Landespolizeien in Auftrag gegeben: Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen (geplant).
- Die übrigen Bundesländer haben keine Studien in Auftrag gegeben.
Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt untersucht derzeit mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums Rassismus in staatlichen Behörden.
Wie viele Fälle von Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden sind bekannt?
Die Lageberichte verschiedener Behörden zum Thema zeigen: Sicherheitsbehörden nehmen das Thema ernster als zuvor. Und sie schauen genauer hin, wenn es um Rechtsextreme in ihren eigenen Reihen geht. Die Zahl der bekannt gewordenen Fälle ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Über manche Netzwerke, von denen in Medien berichtet wird, liest man nur wenig in den offiziellen Lagebildern.
Die Zahlen aus den Lageberichten zeigen eine Zunahme von Ermittlungen wegen rechtsextremer Verdachtsfälle in den Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren. Seit Anfang 2017 wurden Ermittlungen wegen des Verdachts von Rechtsextremismus eingeleitet:
- bei den Behörden der Länder in 319 Verdachtsfällen (Polizei, LKAs, Verfassungsschutz),
- bei den Bundesbehörden in 58 Verdachtsfällen (u.a. Bundespolizei, BKA, Zoll),
- beim Militärischen Abschirmdienst in 1.064 Verdachtsfällen (v.a. Bundeswehr).
Ein Beispiel: Beim Militärischen Abschirmdienst (MAD), der sich vor allem mit Verdachtsfällen in der Bundeswehr beschäftigt, stieg die Zahl der Verdachtsfälle zwischen 2018 und 2019 um ein Drittel.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat 34 Fälle von Rechtsextremen in Sicherheitsbehörden näher untersucht. Die Mehrzahl der Rechtsextremen arbeitete bei der Polizei (22). Die Hälfte agierte allein, die andere Hälfte war Mitglied in einer rechtsextremen Partei oder Organisation. Bei den Taten, wegen derer sie auffällig geworden sind, handelte es sich meist um die Verbreitung rechter Propaganda. Bei acht Prozent gab es aber auch gewalttätige Vorfälle.
Weitere Informationen und eine Chronik von Medienberichten zu rassistischen und rechtsextremen Vorfällen in Sicherheitsbehörden finden Sie in unserem Infopapier.
Von: Donata Hasselmann, Joe Bauer, Carsten Wolf und Carl Melchers
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