Ein 18-Jähriger lockte am 22. Juli 2016 mehrere Jugendliche über ein falsches Facebook-Profil in eine McDonald's-Filiale beim Olympia-Einkaufszentrum in München. Dort eröffnete er das Feuer und erschoss fünf Menschen. Dann verließ er das Restaurant, tötete vier weitere Menschen. Später am Abend erschoss er sich selbst.
Was geschah am 22. Juli 2016? Warum wurde das rassistische Motiv des Attentats so lange nicht anerkannt? Alle Hintergründe zum OEZ Attentat gibt es hier.
Alle Opfer waren Muslim*innen oder gehörten der Minderheit der Sinti*zze und Rom*nja an. In den Ermittlungen zur Tat häuften sich schnell Hinweise darauf, dass die Tat rassistisch motiviert war: Der Attentäter hatte ein rassistisches Manifest verfasst und seine Tat an dem Tag verübt, an dem sich der Anschlag in Oslo und Utøya zum fünften Mal jährte. Allerdings erkannte das Bayerische Landeskriminalamt die Tat erst im Oktober 2019 als politisch motiviert an. Weshalb diese langjährige Fehleinschätzung? Und welche Folgen hat sie für die Betroffenen und für die Aufarbeitung? Darüber diskutierten Fachleute bei einem Pressegespräch des MEDIENDIENSTES.
Die Ermittlungsbehörden hatten das Attentat in München vor allem mit der Mobbingerfahrung des 18-Jährigen erklärt. Deshalb wurde der Anschlag auch als "OEZ-Amoklauf" bekannt, nicht als rassistische Tat. Diese Einschätzung spiegelt die Sichtweise des Täters wider. Der hatte seine Mobbingerfahrung mit türkischen und Rom*nja-Jugendlichen in Verbindung gebracht und danach seine Opfer ausgewählt. Der Rechtsanwalt Onur Özata findet es problematisch, wenn Sicherheitsbehörden diese Sichtweise übernehmen: "Damit schieben wir implizit den Opfern, Angehörigen und Communities die Schuld zu." Man schädige die Opfer und deren Angehörige zusätzlich. Özata vertrat Angehörige der Opfer des Attentats im Prozess gegen einen Mann, der dem Attentäter Waffen verkauft hatte.
Der Ablauf des Anschlags
21./ 22. Juli 2016
- Der spätere Attentäter fordert auf Facebook andere Nutzer dazu auf, in die McDonald‘s-Filiale am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) zu kommen. Er hält sich dort ab 17 Uhr auf.
17.51 bis 17.59 Uhr
- Der Attentäter beginnt im Restaurant auf Menschen zu schießen, tötet fünf Jugendliche und verletzt einen weiteren schwer. Dann verlässt er das Restaurant.
- Auf der Straße schießt er auf Fußgänger*innen und vorbeifahrende Autos. In der Nähe einer Tiefgarage erschießt er zwei Menschen und verletzt drei weitere Personen schwer.
- Ein weiteres Opfer tötet der Attentäter in der Nähe des U-Bahnhofs „Olympia-Einkaufszentrum“.
- Sein letztes Opfer tötet er im Einkaufszentrum.
18.04 Uhr
- Danach läuft der Attentäter auf das Parkdeck eines angrenzenden Parkhauses und schießt auf Anwohner*innen. Später versteckt er sich im Fahrradraum eines Wohnhauses.
ab 19.00 Uhr
- Wegen der unklaren Situationen und Gerüchten auf Social Media kommt es an verschiedenen Orten in der Stadt zu Panik. Zahlreiche Personen werden dabei verletzt. Insgesamt erhält die Polizei 71 Meldungen wegen vermeintlicher Schüsse.
20.26 Uhr
- Der Attentäter verlässt sein Versteck. Er trifft auf Polizist*innen, die ihn auffordern, seine Waffe niederzulegen. Der Attentäter erschießt sich.Quellen
Kein Gegensatz von Rassismus und psychischer Erkrankung
Aus Sicht von Miriam Heigl, Leiterin der Münchener Fachstelle für Demokratie, war das Hauptproblem, dass die Sicherheitsbehörden eine rassistische Gesinnung, zusätzlich zu anderen Motiven des Täters, nicht mit berücksichtigten. Heigl hatte sich über Jahre hinweg mit zivilgesellschaftlichen Partner*innen für die Anerkennung des OEZ-Attentats eingesetzt. Der Fall zeige, wie schwer es Ermittlungsbehörden fällt, rassistische Vorurteile als Motivation für Kriminalität zu erkennen. Die Sicherheitsbehörden hätten in der psychischen Erkrankung des 18-Jährigen die Ursache für das Attentat ausgemacht – und damit ein rassistisches Motiv ausgeschlossen. Jedoch würden sich psychische Erkrankungen und Rassismus nicht ausschließen.
Rassismuserfahrung von Betroffenen ernstnehmen
Um einem Tatmotiv auf die Spur zu kommen, kann eines entscheidend sein: die Aussagen von Opfern, die als Zeug*innen vor Gericht aussagen – sogenannte Opferzeug*innen. Bei den Ermittlungen zum OEZ-Attentat wurde deren Rolle offensichtlich unterschätzt. Özata sieht hier den Fehler: die Opferzeug*innen wüssten in der Regel sehr gut, wer ihnen schaden wolle. Das liege an den vielen Rassismuserfahrungen, die die Betroffenen in ihrem Leben bereits machen mussten. Die Tatsache, dass die Behörden den Rassismus des OEZ-Attentäters auf Biegen und Brechen nicht anerkennen wollten, wirke auf die Angehörigen der Opfer wie Ignoranz und Desinteresse.
Gesellschaftliche Folgen von rassistischen Attentaten
Britta Schellenberg, Vorurteils-Forscherin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, weist auf die gesellschaftlichen Folgen von rassistischen Attentaten hin: "Solche Taten lösen bei den Opfern aber auch bei anderen Angehörigen von Opfergruppen die Angst aus, zum Angriffsziel zu werden.“ Zwei Dinge im Umgang mit Anschlägen sieht sie als zentral an: "Das rassistische Motiv der Täter*innen muss klar benannt werden. Und es muss klargestellt werden, dass Muslim*innen, Sinti*zze und Rom*nja Teil unserer Gesellschaft sind.
Rassismus spielt in Polizei-Ausbildung kaum eine Rolle
Die Fachleute sind sich einig, dass Sicherheitsbehörden zu wenig über Rassismus und Hasskriminalität wissen. Deshalb entwickelte Schellenberg eine Weiterbildung für Polizist*innen, in der reale Fälle wie das OEZ-Attentat verfremdet nachgestellt werden. Dort lernen Polizist*innen in einem Rollenspiel die Perspektive der Opfer kennen. "Da kommt es regelmäßig vor, dass die Polizist*innen in der Rolle von Opferzeug*innen merken: die richtigen Fragen wurden nicht gestellt. Sie wurden mit ihren Themen und ihren Empfindungen übergangen. Einige sagten: 'Ich hatte gar keine Lust mehr, ich war richtig sauer, ich wollte nichts mehr sagen'." Schellenberg führte die Weiterbildung bereits in mehreren Bundesländern durch.
Özata sieht auch für Jurist*innen Weiterbildungsbedarf zu Rassismus und Hasskriminalität: "Das Thema ist überhaupt nicht Gegenstand der juristischen Ausbildung. Auch später gibt es keine Pflicht für Richter*innen und Staatsanwäl*innen, sich weiterzubilden. Man kann also 40 Jahre ein Richter*innenleben führen, ohne sich mit dem Thema auseinanderzusetzen – das ist problematisch".
Von Martha Otwinowski
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