Früher gab es nur "Ausländer" und "Deutsche". Doch dann verschwanden immer mehr Ausländer in der Statistik als Deutsche, weshalb vor über zehn Jahren eine weitere Kategorie eingeführt wurde. Seither erfasst das Statistische Bundesamt im Mikrozensus "Personen mit Migrationshintergrund": das sind Ausländer und Deutsche, die eingebürgert sind oder ausländische Vorfahren haben.
Aus dieser Statistik geht hervor: Jeder fünfte Einwohner in Deutschland hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Inzwischen gibt es sogar mehr Deutsche mit Migrationshintergrund als Ausländer. Die neue Zuschreibung ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden: sie beeinflusst politische Zielvorgaben, etwa in der Arbeitsmarkt- und Schulpolitik oder bei Stellenbesetzungen. Auch in öffentlichen Debatten dreht sich vieles um die "Migrationshintergründler".
"Der Migrationshintergrund im Mikrozensus: Wie werden Zuwanderer und ihre Nachkommen in der Statistik erfasst?" Dazu hat der MEDIENDIENST ein INFORMATIONSPAPIER von der Sozialanthropologin Dr. Anne-Kathrin Will herausgegeben.
Der Mikrozensus ist eine der wichtigsten Datenquellen für Politik und Wissenschaft und legt fest, welche Informationen zur Lebenssituation der Bevölkerung gesammelt werden dürfen. Was kaum jemand weiß: Die Erhebung ist nur durch das Mikrozensusgesetz möglich und die aktuelle Version von 2005 gilt nur bis Ende des Jahres. Damit ab 2017 weiterhin Daten erfasst werden können, muss in den kommenden Monaten ein neues Gesetz erlassen werden. Laut einer Sprecherin des Bundesinnenministeriums (BMI) befindet sich ein entsprechender Gesetzentwurf bereits in der Abstimmung. Die Politik muss nun entscheiden, ob die Kriterien für die Sondergruppe so bleiben oder reformiert werden.
Eine Antwort aus dem federführenden BMI lässt bezweifeln, dass Änderungen vorgesehen sind: "Das im Mikrozensus angewandte Konzept ermöglicht eine Unterscheidung von Personen mit Migrationshintergrund in Deutsche und Ausländer und in Menschen mit und ohne eigene Migrationserfahrung. Dies entspricht einer wiederholt geäußerten Forderung von Wissenschaft, Forschung und Politik", erklärt die Sprecherin dem MEDIENDIENST. Experten hätten sich "explizit dagegen ausgesprochen, den Kreis der Menschen mit Migrationshintergrund durch definitorische Änderungen zu erweitern oder einzuengen".
Doch Ende 2015 befassten sich zahlreiche Experten auf einer Fachtagung mit dem Thema und äußerten durchaus starke Kritik. Bei der Konferenz unter dem Titel "Vermessung der Einwanderungsgesellschaft" waren sich die Fachleute aus verschiedenen Disziplinen in einem Punkt einig: Der Migrationshintergrund macht weder umfassend sichtbar, wer in Deutschland Migrationsbezüge hat, noch liefert er in brauchbarer Weise Daten über die Zugehörigkeit zu einer Minderheit.
So hätten manche Menschen, die wegen ihres Aussehens oder ihres Namens diskriminiert werden, statistisch gesehen gar keinen Migrationshintergrund. "In Ländern wie Frankreich und England ist daher die Erhebung von ›ethnic data‹ üblich", erklärte etwa Statistikforscherin Linda Supik, die zum Thema promoviert hat. Nur so könnte mangelnde Chancengleichheit und Diskriminerung sichtbar gemacht werden. Allerdings komme es darauf an, dass die Befragten sich selbst einer Kategorie zuordnen können und ihre Zugehörigkeit nicht von Statistikern vorgegeben wird, wie es in Deutschland üblich ist.
Kritik an der Definition: zu kompliziert, zu fixiert auf Ethnie
Wer hierzulande einen Migrationshintergrund hat und wer nicht, ist mitunter schwer nachvollziehbar. "Die Einführung des Migrationshintergrunds war weitaus spontaner und ungeplanter als oft angenommen", erklärte Gunter Brückner vom Statistisches Bundesamt bei der Fachtagung.
Dabei waren offenbar einige Entscheidungen politisch: So wurden Vertriebene zum Beispiel nicht zur Gruppe der Migrationshintergründler gezählt. "Ein wesentlicher Teil der deutschen Migrationsgeschichte bleibt unsichtbar", schreibt auch Anne-Kathrin Will im Informationspapier für den MEDIENDIENST. "Die Migrationsbezüge von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen sowie ihrer Nachkommen werden nicht erfasst, weil Einwanderung vor 1950 nicht berücksichtigt wird." Wäre das anders geregelt, wäre die Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund deutlich größer, erklärt die Sozialanthropologin. Diese Menschen hätten schließlich Migrationserfahrungen gemacht oder seien durch ihre Eltern und Großeltern geprägt.
Will kritisiert, dass in der Statistik offenbar "mit zweierlei Maß" gemessen werde: Während bei deutschen Zuwanderern die Migration nicht berücksichtigt wird, "vererben Ausländer ihre Migrationserfahrung quasi". Als "Migrationshintergründler" würden zunehmend Angehörige der zweiten und dritten Generation erfasst, die längst die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Hier bestehe die Gefahr, dass sie ausgegrenzt und als andersartig markiert werden. Dies führe zu einem "ethnisch-konnotierten" Verständnis von Deutschsein, wonach weiterhin nur deutsch ist, wer von Deutschen abstammt – trotz der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts.
"Es gibt vielfach Hinweise darauf, dass in den defizitorientierten Diskursen der Begriff Ausländer einfach durch Person mit Migrationshintergrund ersetzt wurde", schreibt Will. Besonders bedenklich findet sie, dass das Statistische Bundesamt selbst den Fehler begehe, den „Migrationshintergrund“ mit Ausländischsein gleichzusetzen. So steht beispielsweise auf seiner Internetseite zur Fachserie "Bevölkerung mit Migrationshintergrund": "Diese Publikation gibt einen umfassenden Überblick über die aktuelle Lage der Bevölkerung mit Migrationshintergrund [...] im Vergleich zur deutschen Bevölkerung [...].” Hier stellt sich für Will die Frage: "Wie können Mikrozensus-Experten von Politikern und Journalisten erwarten, dass sie die Begriffe richtig verwenden, wenn sie es selbst nicht immer tun?"
Zudem sei die Erfassung des Migrationshintergrunds im Mikrozensus sehr komplex. Zum einen sind dafür 19 Fragen im Mikrozensus vorgesehen. Zum anderen kommen unterschiedliche zeitliche Begrenzungen zum Tragen: So hat man beispielsweise einen Migrationshintergrund, wenn die Eltern ab 1950 oder Großeltern ab 1960 zugewandert sind. Die neueste Volkserhebung „Zensus 2011“ nutzt mit dem Jahr 1955 eine dritte zeitliche Grenze. Und Bildungsstatistiken der Bundesländer verwenden teilweise eine gänzlich andere Definition. Die Daten sind also schwer oder gar nicht miteinander vergleichbar.
Fazit: "Unterm Strich geht es um Zugehörigkeit und wie diese in der offiziellen Statistik repräsentiert wird", so Will. Sollen „Deutsche ohne Migrationshintergrund“ die Referenzkategorie bleiben und alle anderen Bevölkerungsteile eine Abweichung davon sein, auch dann, wenn sie bereits die deutsche Staatsangehörigkeit haben? Oder sollte die Statistik der Tatsache besser Rechnung tragen, dass sich die deutsche Nation diversifiziert?
Das seien grundlegende politische Fragen, die nun parlamentarisch zu klären seien und nicht den Statistischen Ämtern überlassen werden dürften.
Von Ferda Ataman
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