Am vergangenen Sonntag schrieb Nicolaus Fest, stellvertretender Chefredakteur der "Bild am Sonntag", einen umstrittenen Kommentar. Unter dem Titel "Der Islam als Integrationshinderniss" gab er von sich preis: "Ich glaube an keinen Gott, aber Christentum, Judentum oder Buddhismus stören mich auch nicht. Nur der Islam stört mich immer mehr." Sein erstes Argument: "Mich stört die weit überproportionale Kriminalität von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund."
In der Aussage schwingt eine Kausaltität mit: Die Jugendlichen sind öfter kriminell, weil sie Muslime (Wahlweise auch: Ausländer, Türken, Araber) sind. Aber gibt es für diese häufig wiederkehrende Annahme Belege? Was lässt sich über den Zusammenhang zwischen Herkunft, Religion und Delinquenz sagen? Der Rechtswissenschaftler Christian Walburg vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster ist dieser Frage in seinem Gutachten "Migration und Jugenddelinquenz – Mythen und Zusammenhänge" nachgegangen.
Demnach muss bei den vorliegenden Erkenntnissen zunächst einmal unterschieden werden zwischen offiziellen Statistiken, die von der Polizei und den Kriminalämtern erfasst werden, und Befragungen, bei denen Jugendliche selbst Aussagen über ihre Erfahrungen als Täter und Opfer treffen. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse:
Was sagen die offiziellen Zahlen?
- In der Kriminalstatistik liegt die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen und Straffälligen verglichen mit ihrem Anteil an der Bevölkerung zwar überproportional hoch. Allerdings hat sie laut Walburg "wenig Aussagekraft", denn die Behörden erfassen in der Regel nur Deutsche und Ausländer, jedoch keine Herkunftsbezüge. Da inzwischen knapp zwei Drittel der Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutsche Staatsangehörige sind, tauchen sie in der Statistik als Deutsche auf. Verzerrend komme hinzu: In der Gruppe der Ausländer werden auch solche mit einem Wohnsitz im Ausland gezählt – obwohl sie nicht Teil der Bevölkerung in Deutschland sind. (Seite 6)
- Bei der offiziell erfassten Kriminalität sei zu berücksichtigen, dass Jugendliche ausländischer Herkunft in Konfliktsituationen häufiger bei der Polizei angezeigt werden als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Sie unterliegen dadurch einem erhöhten "Kriminalisierungsrisiko". (Seite 10)
- Viele empirische Untersuchungen zeigten, dass die „erste Generation“ von erwachsenen Einwanderern nicht durch Straftaten auffällt. In Deutschland ließ sich das überwiegend für die sogenannten Gastarbeiter und für (Spät‑)Aussiedler beobachten.
- Ausländische Jugendliche fallen in den letzten Jahren immer seltener mit Straftaten auf. Hier hat etwa die Polizeiliche Kriminalstatistik 2013 interessante Zahlen geliefert, die bislang kaum Beachtung fanden: „Die zu beobachtende Tendenz eines starken Rückgangs der offiziell registrierten Jugendkriminalität – gerade im Bereich der Gewaltdelikte – ist auch für ausländische Jugendliche festzustellen“, erklärt Walburg. Betrachtet man den Anteil der Straftaten im Verhältnis zum Anteil in der Bevölkerung, erhält man den Wert für die "Kriminalitätsbelastung". Diese sei seit 2005 nahezu um ein Fünftel zurückgegangen und auch die Gewaltbelastung habe sich um mehr als ein Drittel reduziert. (Seite 7)
Was sagen Befragungen bei Jugendlichen aus?
Befragungsstudien (sogenannte „Dunkelfeld“-Analysen) haben gegenüber offiziellen Kriminalstatistiken den Vorteil, dass die oben genannten Verzerrungen keinen Einfluss haben. Zudem können hier Migrationsbezüge und andere individuelle und soziale Merkmale erfasst werden, die Aufschluss geben. Aus diesen Untersuchungen geht hervor:
- Grundsätzliche Unterschiede im Delinquenzverhalten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund werden nicht belegt.
- Unterscheidet man nach Deliktbereichen fällt auf: Migrantenjugendliche berichten in Befragungen insgesamt ähnlich häufig wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund von "jugendtypischer Bagatelldelinquenz" wie Sachbeschädigungen oder Diebstahl.
- Jugendliche mit Migrationshintergrund berichten nach der Mehrzahl der Studien häufiger von Gewaltdelikten und sind hier vermehrt unter den Mehrfachgewalttätern zu finden – wobei die Gewaltbelastung bislang tendenziell zunahm, je länger die familiäre Migrationsgeschichte zurücklag.
- Ein Zusammenhang zwischen erhöhter Gewaltbereitschaft und einer ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit wird durch Studien nicht belegt. Wenn die Befragungen höhere Anteile von Gewalttätern ergeben haben, traf dies meist auf alle größeren Herkunftsgruppen zu.
- Speziell für die Nachkommen der sogenannten Gastarbeiter fanden sich in einigen neueren Studien Hinweise darauf, dass Unterschiede zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund geringer werden oder verschwinden.
- Zahlreiche Studien zeigen, dass die Religion bei jungen Muslimen mitunter soziale Bindungen und Kontrolle fördert. Die Forscher richten ihren Blick dabei unter anderem auf das Freizeitverhalten: Weniger Alkoholkonsum und weniger Nachtleben verringern demnach die Delinquenzrisiken in manchen Migrantengruppen deutlich.
- Eine stärkere Zustimmung zu Gewalt hat demnach in der Regel mit einer größeren sozialen Randständigkeit (Marginalisierung) zu tun. So verschwinden beispielsweise die Unterschiede bei der Gewalttätigkeit zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nahezu, wenn sie die gleichen Bildungschancen haben.
Walburg schlussfolgert: "Die Kriminalitätsbeteiligung kann nicht primär herkunftsspezifisch erklärt werden." Bei Aussagen über besonderes Delinquenzverhalten unter bestimmten Gruppen bestehe immer die Gefahr einer unzulässigen Pauschalisierung und entsprechender Fehlschlüsse.
Die Untersuchungen machen zudem Handlungsbedarf deutlich: "Nach den genannten Forschungsbefunden ist die Förderung der Bildungsbeteiligung von Jugendlichen aus Migrantenfamilien ein wesentlicher Schlüssel zur Verringerung von Delinquenzrisiken", schreibt Walburg im MDI-Gutachten. Je besser deren Einbindung in das Bildungssystem gelinge, desto mehr verliere gewaltsames Verhalten an Attraktivität.
Dr. Christian Walburg ist Akademischer Rat am Institut für Kriminalwissenschaften in der Abteilung Kriminologie der Universität Münster. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Münster und Lyon hat er im Forschungsprojekt „Kriminalität in der modernen Stadt“ mitgearbeitet, einer Langzeituntersuchung zur Entstehung und Entwicklung von Delinquenz im Lebensverlauf junger Menschen. Seine 2014 veröffentlichte Dissertation befasst sich mit Zusammenhängen zwischen Migration und Jugenddelinquenz.
Von Ferda Ataman
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