Mediendienst: Wie definieren Sie "Ehrenmord"?
Julia Kasselt: 2011 haben wir eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts verfasst und den Tatbestand folgendermaßen definiert: „Ehrenmorde sind vorsätzlich begangene, versuchte oder vollendete Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchalisch geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig von Männern an Frauen verübt werden, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie oder des Mannes wiederherzustellen. Die Verletzung der Ehre erfolgt durch einen wahrgenommenen Verstoß einer Frau gegen auf die weibliche Sexualität bezogene Verhaltensnormen.“
Wird diese Definition vom BKA oder von Richtern angewandt?
Sie ist eine Forschungsdefinition und daher nicht gerichtlich relevant. Man muss allerdings sagen, dass es bis heute keine klare, allgemein gültige Definition gibt, auf die sich die Richter beziehen können. Wir haben versucht, aus der Literatur und der Fallanalyse eine Definition auszuarbeiten, die bei der Rechtsprechung behilflich sein kann.
Warum ist es so schwierig, Ehrenmorde zu erkennen?
Es gibt sehr wenige Ehrenmorde im engeren Sinn – also Tötungsdelikte, in denen eine junge Frau von einem Blutsverwandten aufgrund der Familienehre getötet wird. Es gibt allerdings viele Grenzfälle im Bereich der Blutrache oder der Partnertötung, bei denen sich typische Elemente eines Ehrenmords nachweisen lassen, insbesondere ein starker Gruppendruck oder die Tatbeteiligung von Familienangehörigen.
In Ihrer ersten Studie 2011 und jetzt in Ihrer Dissertation haben Sie fast 80 Tötungsdelikte analysiert, die sich zwischen 1996 und 2005 ereigneten. Haben die Richter schon damals das Wort „Ehrenmord“ benutzt?
Nein. Meistens ist in der Bezeichnung der Motive von „Ehrenmotiven“ die Rede. Das Schlagwort hat sich erst 2005 mit dem Fall Sürücü etabliert – nicht zuletzt wegen der großen medialen Aufmerksamkeit.
Sind "Ehrenmorde" ein Islam-spezifisches Phänomen?
Es stimmt zwar, dass ein überwiegender Anteil der Täter in den Fällen, die ich analysiert habe, muslimisch ist. „Ehrentötungen“ im weiten Sinn gibt es allerdings auch in der italienischen oder in der albanischen Gesellschaft. Ich würde eher von einem kulturellen Phänomen sprechen, das seinen Ursprung in archaischen Stamm-basierten Gesellschaftsmodellen hat. In diesen Gesellschaften ist die Ehre ein symbolisches Kapital, das als kollektives Gut von den Familienmitgliedern gemeinsam verteidigt werden muss.
Sind Sie der Meinung, dass bei der Rechtsprechung in diesen Fällen Herkunft und kultureller Hintergrund berücksichtigt werden sollten?
Die Frage nach dem Motiv ist vor Gericht immer entscheidend. Der Bundesgerichtshof hat eindeutig bestimmt, dass wenn ein Ehrenmotiv vorliegt, dies auch zu prüfen ist – vor allem in Bezug auf die Frage ob ein "niedriger Beweggrund" nachgewiesen werden kann. Das Gericht muss darüber entscheiden, ob es sich um Mord oder Totschlag handelt und prüfen, welche Mordmerkmale der Täter wirklich haben könnte. Dann kommt die Frage, welche Merkmale der Mord aufweist.
Was bedeutet es für den Angeklagten, wenn „Ehrenmotive“ vom Gericht erkannt werden?
Meistens hat das eine strafverschärfende Wirkung. Denn "Ehrenmotive" gelten in der Regel als niedriger Beweggrund und damit als Mordmerkmal. Das heißt, die Täter erhalten in vielen Fällen lebenslange Haftstrafen.
In der Studie von 2011 heißt es, dass „die untersuchten Urteile hinsichtlich der Bewertung der Ehre insgesamt milder ausfallen, als die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes dies erwarten lässt.“ In Ihrer aktuellen Doktorarbeit vertreten Sie allerdings die These, dass Ehrenmorde von der deutschen Justiz härter bestraft werden. Können Sie den Widerspruch erklären?
In der damaligen Studie haben wir nur die Bestrafung der Ehrenmorde untersucht. Für meine Dissertation habe ich beschlossen, 78 Ehrenmorde mit 91 anderen Straftaten zu vergleichen, die ähnlich gelagert sind, um die Justizpraxis besser einordnen zu können: Fälle von Männern, die ihre (Ex-)Partnerin töten, weil sie sich nach einer Trennung in ihrem männlichen Stolz verletzt fühlen oder weil sie vermuten, dass die Frau untreu ist. Faktoren wie Rache, Eifersucht und Besitzdenken stehen oftmals bei Partnertötungen im Hintergrund – auch bei Deutschen ohne Migrationshintergrund. Und diese können vor Gericht ebenfalls als "niedrige Beweggründe" erkannt werden.
Was war Ihr Ergebnis?
Es stimmt, dass in solchen Fällen lediglich 38 Prozent der Täter eine lebenslange Strafe bekommen haben. Doch der Anteil der Lebensstrafen bei den von mir untersuchten vergleichbaren Delikten lag sogar nur bei 23 Prozent. Der Vergleich führt also zu einer völlig neuen Perspektive auf die Bestrafung von Ehrenmorden: Man versteht, dass die Gerichte in Ehrenmordfällen keine "Rabatte" verteilen.
Haben die deutschen Gerichte schon immer nach diesem Prinzip geurteilt?
Nein. In den 90er-Jahren hatte es unterschiedliche Urteile des Bundesgerichtshofs gegeben, die im Fall von kulturell motivierten Tötungsdelikten mal strengere, mal mildere Strafen vorschrieben. Anfang 2002 setzte sich dann im Fall des sogenannten Bunkermords die Ansicht durch, dass bei kulturell motivierten Delikten in der Regel ein "niedriger Beweggrund" und damit ein Mordmerkmal vorliegt. Das wirkte sich auf die Rechtsprechung aus: Wenn man sich die Urteile ab diesem Jahr anschaut, liegt die Quote von lebenslangen Freiheitsstrafen deutlich über 50 Prozent. Diese zeitliche Perspektive hatten wir in der Studie von 2011 auch noch nicht untersucht.
In der Studie schreiben Sie: "Die Kriminalität der ‚Anderen’ wird stets als bemerkenswerter und bedrohlicher wahrgenommen als die Kriminalität der eigenen Gruppe“. Ist das Phänomen "Ehrenmord" das Produkt eines bestimmten kulturellen Hintergrunds oder der Ängste der Mehrheitsgesellschaft?
Den „Ehrenmord“ als Tat gibt es. Und diese Tat beruht offensichtlich auf einem bestimmten kulturellen Hintergrund. Aber die Art, wie diese Morde thematisiert werden, ist eindeutig das Produkt unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Grundeinstellungen. Wenn ein Mensch ohne Migrationshintergrund seine ganze Familie tötet, ist das zwar eine Tragödie, doch meistens wird daraus kein Politikum. Ehrenmorde gibt es zwar sehr selten, aber wenn sie bekannt werden, erhalten sie eine enorm große mediale Aufmerksamkeit. Die Frage ist, warum? Ein Grund mag sein, dass aus einer deutschen Wertvorstellung diese Delikte nicht nachvollziehbar sind. Die Delikte lassen sich außerdem für politische Zwecke nutzen, zum Beispiel um zu erklären, dass der Islam mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar sei.
Das Landgericht Wiesbaden war kürzlich in den Schlagzeilen, weil es bei einem Tötungsfall an einer schwangeren Frau keine besondere Schwere der Schuld erkennen konnte. Der Täter, ein Afghane, habe sich aufgrund seines kulturellen Hintergrunds in einer Zwangslage befunden. Die Medien sprachen von einem „Islamrabatt“. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
Keineswegs. Zum einen kann von "Rabatt" gar nicht die Rede sein. Denn eine besondere Schwere der Schuld wird nur in den seltensten Fällen erkannt. Das Bundesverfassungsgericht gibt den Gerichten vor, diese sehr vorsichtig anzuwenden. Die besondere Schwere der Schuld wird in der Regel nur dann festgestellt, wenn es mehrere Opfer gab oder die Tötung auf besonders grausame Art erfolgte. Zum anderen haben sich die Richter nach meinem Wissen gar nicht auf den religiösen Hintergrund des Täters bezogen. Sie haben lediglich gesagt, dass der Täter sich in einer kulturellen und familiären Zwangslage befand.
In den meisten Medien kursierte allerdings ein Zitat der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das den religiösen Hintergrund hervorhob. Das wurde in anderen Medien widerlegt. Was in den meisten Medien übrigens nicht erwähnt wurde, ist dass die besondere Schwere der Schuld nicht erkannt wurde, weil der Täter sehr jung ist und unter dem Einfluss eines autoritären Vaters stand. Die Journalisten vergessen oftmals, dass die Strafzumessung nicht nur von einem Faktor abhängig ist, sondern von mehreren: Vorgeschichte, Alter, Geschlecht, Tatausführungen und so weiter.
Interview: Fabio Ghelli
Dr. Julia Kasselt ist Co-Autorin einer umfassenden Studie zum Phänomen "Ehrenmorde" in Deutschland, die 2011 im Auftrag des BKA erschien. Von 2008 bis Februar 2014 war sie in der kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg tätig. Für ihre in Kürze erscheinende Dissertation hat sie die Strafzumessung deutscher Gerichte in sogenannten Ehrenmordfällen untersucht.
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