Der Artikel erschien am 17.06.2021. Aus aktuellem Anlass präsentieren wir ihn erneut.
Hunderte Jugendliche randalierten in der Nacht vom 20. zum 21. Juni 2020 in der Stuttgarter Innenstadt. Zahlreiche Polizist*innen wurden verletzt, Geschäfte geplündert. Einige Politiker*innen und Medien erklärten die Krawalle im Anschluss mit dem Migrationshintergrund einiger Tatverdächtiger. Doch die Herkunft sei "nicht von zentraler Bedeutung" gewesen, um die Ausschreitungen von Stuttgart zu verstehen, schreiben die Kriminologen Tobias Singelnstein und Christian Walburg in ihrer Expertise für den MEDIENDIENST.
Wann spielt die Herkunft von Tatverdächtigen eine Rolle? Wann nicht? Um diese schwierige Frage zu beantworten, zeigen die Kriminologen Tobias Singelnstein und Christian Walburg in dieser Expertise den aktuellen Forschungsstand. Sie soll es Journalist*innen erleichtern, ihre Abwägung selbst zu treffen – unter Zeitdruck, aber auf Grundlage möglichst umfassender Informationen.
Die vollständige Expertise finden Sie hier:
>> Sollten Medien die Herkunft von Tatverdächtigen nennen?
Hintergrundwissen aus der kriminologischen Forschung (pdf-Datei)
>> Checkliste: Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen
Eine Checkliste für den journalistischen Alltag (jpg-Datei)
Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:
- Herkunft und Zuwanderungsgeschichte sind "nicht entscheidend" für Kriminalität, so die Forscher. Kriminalität ist Folge einer Vielzahl von Faktoren, besonders der Lebensumstände und Lebenserfahrungen von Menschen. Staatsbürgerschaft oder Migrationshintergrund können zuweilen als Hintergrundfaktor eine indirekte Rolle spielen. Ob das der Fall ist, lässt sich nur im Einzelfall beurteilen.
- Der Blick der Medien auf Kriminalität ist in den letzten Jahren "verzerrter" geworden. Journalist*innen nennen viel häufiger als früher die Herkunft von Täter*innen, besonders bei ausländischen Tatverdächtigen. Laut einer Untersuchung von 2019 wurden sie viel häufiger genannt als es ihrem Anteil in der Kriminalstatistik entspricht. Das birgt die Gefahr, Minderheiten zu stigmatisieren. Quelle
- Journalist*innen sollten die Herkunft nur dann nennen, wenn die Herkunft zum Verständnis des Geschehens wichtig ist ("Erklärungswert") und dies schwerer wiegt als die negativen Folgen der Nennung ("Stigmatisierungsgefahr").
Beispiele aus der Berichterstattung
Ein Beispiel sind die Ausschreitungen in Stuttgart im Juni 2020. Die Mehrheit der ermittelten Tatverdächtigen dürfte in Deutschland aufgewachsen sein: Unter den 100 ermittelten Tatverdächtigen waren 66 Deutsche, darunter 49 Deutsche mit Migrationshintergrund (Quelle). Nach bisherigem Kenntnisstand war das nicht von zentraler Bedeutung für die Erklärung der Vorkommnisse, sagen die Forscher. Wenn Tatverdächtige in Deutschland aufgewachsen sind, gebe es oftmals keinen Grund, den Migrationshintergrund oder die Staatsbürgerschaft zu nennen.
Ein weiteres Beispiel sind Partner*innentötungen, über die in Medien immer wieder sehr ausführlich berichtet wird. In solchen Verbrechen zeigen sich häufig Besitz- und Kontrollansprüche, die bei Einheimischen und Zugewanderten vorkommen. 2019 waren knapp zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen in diesem Bereich Deutsche. Wenn im Einzelfall überholte Vorstellungen wie die "Verteidigung der Ehre der Familie" eine Rolle gespielt haben, kann dies dafür sprechen, dass Medien die Herkunft von Tatverdächtigen erwähnen und diese Bezüge erklären. Quelle
Was sagt der Deutsche Journalisten-Verband?
Journalist*innen sollten also im Einzelfall sehr genau hinschauen. Dazu verpflichtet sie auch der Pressekodex. Und das betont auch Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV). Er sagt zur Expertise: "Die Studie unterstreicht unsere Haltung zur Nennung der Herkunft von Straftätern: Aus welchem Land oder Kulturkreis ein Täter stammt, ist nur dann von Interesse, wenn diese Information zum Verständnis der Tat erforderlich ist, also in den meisten Fällen nicht." Außerdem betont Überall die gesellschaftliche Verantwortung von Journalist*innen: "Wir Journalisten dürfen unsere Verantwortung für die Werte des Pressekodex nicht vergessen. Und keinesfalls darf unsere Berichterstattung Munition für Rassisten und Hetzer sein."
Von Carsten Janke
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