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ÜBER DIESE FOLGE
Folge 5: "Glücksfall offene Grenzen"
mit dem Wirtschaftsforscher Herbert Brücker (IAB, HU Berlin)
Der Podcast "Einwanderungsland" richtet sich an alle, die das große Ganze verstehen wollen, wenn es um Migration geht. In 20 Minuten bieten wir Einblicke, Fakten und Zahlen zu polarisierten Migrationsdebatten. In dieser Folge sprechen wir mit dem Wirtschaftsforscher Herbert Brücker (Humboldt-Universität Berlin, BIM) darüber, warum 20 Jahre EU-Osterweiterung ein Grund zu feiern sind.
Vor der Erweiterung hatte es viele Ängste gegeben vor "Armutsmigration" und einer "Einwanderung in die Sozialsysteme". Heute weiß man: Der Sozialstaat hat enorm profitiert. Besonders von den Millionen neuen Arbeitskräften vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Die EU-Osterweiterung sei ein "Erfolgsmodell der Migration" sagt Brücker.
Selten sind die Zahlen so eindeutig, so Brücker weiter: Rund 1,6 Millionen Menschen aus den Ländern der Osterweiterung arbeiten heute in Deutschland – fast fünfzehnmal mehr, als es Arbeitslose aus diesen Ländern gibt (120.000). Die Beschäftigungsquoten seien in den letzten 20 Jahren extrem gestiegen, von etwa 30 Prozent auf inzwischen 66 Prozent bei Bulgaren und Rumänen (im Vergleich zu 69 Prozent in der deutschen Bevölkerung). "Wir haben eigentlich in der Wirtschaftsgeschichte noch nie einen so starken Anstieg der Beschäftigungsquoten gesehen", so Brücker.
Die Millionen Arbeitskräfte in der Baubranche, im Transport, der Landwirtschaft oder der Pflege zeigten, wie sehr Deutschland in den letzten Jahren auf die Zuwanderung aus östlichen EU-Staaten angewiesen gewesen sei. "Der Boom auf dem Arbeitsmarkt und die Halbierung der Arbeitslosigkeit wurde ganz wesentlich von der Zunahme der ausländischen Beschäftigung getragen". Ohne sie wäre das Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren um ein Drittel niedriger ausgefallen, schätzt Brücker.
Mit der Freizügigkeit habe es auch negative Begleiterscheinungen gegeben, wie etwa die "Roma-Häuser" in manchen Städten des Ruhrgebiets oder in Berlin. "Aber das waren eben Einzelfälle", betont Brücker, "der Normalfall der Migration aus Osteuropa sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte" in vielen systemrelevanten Branchen.
Sein Fazit: Sozial und wirtschaftlich habe Deutschland enorm profitiert – auch wenn manche politische Folgen der Freizügigkeit für die EU bedauerlich seien. Als Beispiel nennt er den Brexit, also den Ausstieg Großbritanniens aus der EU, der besonders mit Ressentiments gegen Migrant*innen zum Beispiel aus Polen vorangetrieben worden sei.
ZITATE
"(...) Was damals in Deutschland passiert ist, das hat natürlich sehr viel mit der Urangst vor Migration zu tun. Was passiert, wenn wir in Europa bei den hohen Einkommens-Differenzen die Grenzen öffnen? Heute können wir da, glaube ich, relativ gelassen drauf blicken, aber damals war das ein wirklich angstbesetztes Thema. Es war ein großes Thema in der Presse, sehr ähnlich wie heute die Fluchtmigration."
"(...) Wir hatten am Anfang auch eine starke Migration nach Großbritannien und Irland, was häufig übersehen wird. Auch in den Süden der Europäischen Union, nach Spanien und Italien, weil das waren damals die Volkswirtschaften, die wir in Europa damals prosperiert haben. [Die Finanzkrise 2009 und der Brexit 2019] das gemeinsam hat dann eine Migrations-Umlenkung nach Deutschland ausgelöst..."
"Es hat in der Tat große Migration gegeben. Und inzwischen haben wir aus diesen beiden Ländergruppen etwa 2,6 Millionen Menschen, die in Deutschland leben. Ja, und die Menschen, die wir jetzt haben, haben sich sehr gut in den Arbeitsmarkt integriert. Wir haben eigentlich in der Wirtschaftsgeschichte noch nie einen so starken Anstieg der Beschäftigungsquoten gesehen."
"Aber für den Sozialstaat war das auf jeden Fall ein Erfolgsfall. Die Menschen bringen natürlich auch Kinder mit, aber weit unterdurchschnittlich. Und wir haben fast keine Rentnerinnen und Rentner.
Und dann kommt dazu, dass wir eine sehr starke, temporäre Migration haben (...) Die ganzen Ausgaben, die wir haben (...) die großteils im Alter anfallen - all das fällt nicht an bei Menschen, die früh wieder zurückkehren. Und das tun die meisten aus diesen Ländern. Es hilft uns wirtschaftlich. Ja die sozialen Kosten sind geringer als bei anderen Formen der Migration und der Sozialstaat profitiert auch."
"Und also auch dieses Phänomen der Freizügigkeit, dass wir in Europa einen Wirtschaftsraum von verschiedenen Ländern haben von 400, 500 Millionen Menschen, in denen man sich frei bewegen kann. Das gibt es in dieser Größenordnung nirgends sonst auf der Welt."
"Und [wenn wir diese Zuwanderung nicht hätten und die Grenzen geschlossen wären], das wäre die Negativ-Vision einer Volkswirtschaft, der auf einmal ein Viertel 20 bis 30 Prozent der Arbeitskräfte entzogen werden. Es wird nie eintreten, auch wenn die AfD an die Regierung kommt. Aber wenn man das durchdenkt, wird man eben sehr schnell erkennen, wird man sehr schnell sehen, dass so eine Volkswirtschaft nicht mehr funktionieren würde.
Der Podcast "Einwanderungsland" wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
Weitere Quellen:
> Zahlen & Fakten zu 20 Jahren Osterweiterung (2024), Mediendienst, Link
> Dossier mit Zahlen zur "EU-Zuwanderung" (2024), Mediendienst, Link
> Faktencheck zu Bulgarien und Rumänien (2022), Mediendienst, Link
> IAB-Studie zu 5 Jahren EU-Osterweiterung (2009), IAB, Link
> ZEW-Studie zur EU-Osterweiterung (2022), ZEW, Link
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