In seiner Rede zur "Lage der Union" hat der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, insgesamt 160.000 Flüchtlinge, die derzeit in Griechenland, Ungarn und Italien sind, umzuverteilen. Dass dies keine einfache Aufgabe ist, dürfte Juncker bewusst sein: Bislang konnten sich die Mitgliedstaaten nicht einmal über die Verteilung eines Viertels dieser Flüchtlinge einigen. Lediglich 80 Prozent der 40.000 Asylsuchenden, die aufgrund einer Notfallregelung vom vergangenen Juni auf andere EU-Staaten hätten verteilt werden sollen, konnten auf freiwilliger Basis den Mitgliedstaaten zugeteilt werden.
Doch die Notfallregelung soll nur der erste Schritt sein: Juncker fordert auch einen permanenten Umverteilungs-Mechanismus, der die Dublin-Verordnung ersetzen, beziehungsweise integrieren soll. Ob das funktionieren kann, ist fraglich, denn die Ministerpräsidenten von Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen haben kürzlich betont, dass sie einer Pflichtquote zur Verteilung von Asylsuchenden nicht zustimmen würden.
Eine mögliche Lösung versprechen sich die Befürworter der EU-Flüchtlingsquote – allen voran Deutschland und Frankreich – vom sogenannten „Hotspots"-Konzept, das in der EU-Migrationsagenda vom vergangenen Mai erläutert wurde. Dabei handelt es sich um eine gemeinsame Unternehmung der Grenzschutzagentur Frontex, des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) und der europäischen Polizeibehörde Europol. Ziel ist es, die Erstaufnahme für Flüchtlinge in EU-Grenzstaaten wie Italien und Griechenland zu bündeln.
Wie sollen die "Hotspots" in der Praxis funktionieren?
In einem inoffiziellen Erläuterungs-Papier der Europäischen Kommission, das die Organisation Statewatch veröffentlicht hat, heißt es: die „Hotspots“ sind eine Plattform, die es den beteiligten Institutionen ermöglichen soll, im Fall eines erhöhten „Migrationsdrucks“ zeitnah an den Grenzen der EU zu intervenieren. Die "Hotspots"-Koordinierungsstelle hätte demnach sehr vielfältige Aufgaben:
- Migranten zu identifizieren und registrieren,
- ihre Migrationsrouten zu erforschen,
- Schlepper-Netzwerke aufzudecken,
- Asylverfahren einzuleiten und
- die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern zu organisieren.
Es ist dennoch unklar, wo und wie die Migranten aufgenommen und untergebracht werden sollen. Aus Regierungskreisen heißt es, Deutschland wolle sich dafür einsetzen, dass im Rahmen der „Hotspots“ große Aufnahme-Einrichtungen in Italien, Griechenland und Ungarn errichtet werden.
Der Migrations- und Grenzschutzforscher Vassilis Tsianos steht diesem Vorschlag skeptisch gegenüber: „Die Idee, Asylsuchende in großen Aufnahmezentren in den Grenzländern zu sammeln, dort ihre Anträge in aller Eile zu bearbeiten, um sie dann im Fall einer Ablehnung von dort abzuschieben, geht zu Lasten der Migranten sowie der Erstaufnahme-Länder. Dabei würden riesige Ballungsräume entstehen, die bei der Lokalbevölkerung auf Ablehnung stoßen würden. Außerdem wäre es fast unmöglich, faire Verfahren und menschenwürdige Lebensbedingungen für Flüchtlinge zu garantieren.“
Aufnahmezentren mit Verteilungsschlüssel verbinden
Tsianos zufolge wäre ein „Screening“-System zur Identifizierung und Registrierung der Flüchtlinge, wie es die EU vor drei Jahren in Griechenland eingesetzt hat, grundsätzlich keine schlechte Idee. Dadurch könne man einerseits Migrationsbewegungen besser verstehen, andererseits aktiver auf die Bedürfnisse von Asylsuchenden eingehen. Feste Strukturen sind dem Migrationsforscher zufolge jedoch schnell überlastet. So seien Aufnahmezentren von Evros und Mytilini in Griechenland chronisch überbelegt und dementsprechend in einem sehr dürftigen Zustand. „Besser wäre es, eine flexible Struktur zu haben, die sich an die Flüchtlingsbewegungen anpassen kann“, so Tsianos.
Insgesamt könne eine zentralisierte Erstaufnahme der Flüchtlinge nur dann funktionieren, wenn sie mit einer Verteilung der Asylsuchenden auf die gesamte EU einhergeht. Denn Italien und Griechenland seien bereits an die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit gestoßen. Und das, obwohl sie für den Zeitraum 2014 bis 2020 erneut massive Zuschüsse zum Zweck der Grenzsicherung und der Migrationssteuerung zugesprochen bekommen haben:
- Italien: ca. 558 Millionen Euro
- Spanien: 521 Millionen Euro
- Griechenland: 474 Millionen Euro
Einem Plan zufolge, der jüngst von den Spitzen der deutschen Regierungskoalition verabschiedet wurde, sollen sowohl eine europäische Flüchtlingsquote als auch die "Hotspots" bald Realität werden. Laut Bundesregierung sollen diese "auf jeden Fall bis spätestens Jahresende einsatzfähig sein."
Dass bis zum Jahresende große Aufnahmezentren in Italien und Griechenland eingerichtet werden können, scheint jedoch mehr als ambitioniert. Bisher gibt es nur erste Ansätze: Einem im Internet kursierenden Papier der Europäischen Kommission zufolge wurde in der italienischen Stadt Catania erst kürzlich eine erste Koordinierungsstelle mit sieben Beamten eingerichtet. Eine ähnliche Koordinierungsstelle soll auch im griechischen Piräus-Hafen aktiviert werden – bescheidene Maßnahmen in Anbetracht der rund 380.000 Flüchtlinge, die im Sommer über das Mittelmeer gekommen sind.
Von Fabio Ghelli
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