Worum es Deutschland beim Abschluss von Migrationsabkommen geht, ist klar: Aus den Ländern sollen Arbeitskräfte angeworben werden, gleichzeitig soll die Zahl der Abschiebungen steigen. Doch warum gehen andere Staaten solche Abkommen mit Deutschland ein? Der MEDIENDIENST hat Fachleute gefragt, die in und zu den Ländern arbeiten. Sie sagen: Bessere Einwanderungsmöglichkeiten nach Deutschland können attraktiv sein, denn einige der Partnerstaaten kämpfen mit Arbeitslosigkeit. Deshalb schließen sie aber auch Abkommen mit anderen Ländern. Die Kosten und der Verhandlungsaufwand für die Abkommen erscheinen jedoch hoch.
Eine Übersicht aller Migrationsabkommen gibt es hier.
Marokko
Mehdi Alioua, Außerordentlicher Professor an der Université Internationale de Rabat in Marokko und Chefredakteur des Journals "Afrique(s) en Mouvement". Er forscht zu Migrationspolitik und Migrationsbewegungen.
"Die Migrationsabkommen sind sehr widersprüchlich: Einerseits braucht Deutschland wegen des demografischen Wandels dringend Migrant*innen, die von außerhalb der EU kommen. Andererseits versucht es, andere Länder dazu zu bringen, Migration zu verhindern und Migrant*innen zurückzunehmen. Die Kosten und der Verhandlungsaufwand dafür sind sehr hoch, denn auch im Falle Marokkos geht es nicht um viele Personen. Für Marokko ist natürlich die Frage, ob es die Auswanderung von qualifizierten Personen, von Ärzten, von Ingenieuren fördern und im Gegenzug mehr Menschen zurücknehmen soll. Gleichzeitig hat das Land keine große Verhandlungsmacht, es ist wirtschaftlich von europäischen Staaten abhängig, erhält möglicherweise wirtschaftliche Unterstützung, vielleicht politische Unterstützung in Bezug auf die Sahara.
Eine vereinfachte Einreise nach Deutschland kann trotz Sprachbarrieren für viele Marokkaner*innen interessant sein, denn die Job-Perspektiven sind hier nicht gut. Viele Personen sind sehr mobil, Migration ist Teil der Lebensrealität, und in vielen EU-Staaten gibt es marokkanische Communities, die ein Anlaufpunkt sein können. Viele Debatten über das Abkommen gibt es hier gerade nicht, es gibt ja ständig neue und die Leute sind müde, gerade was den Diskurs über Migrationskontrolle und Abschiebungen betrifft."
Usbekistan
Bunyod Yuldashev, von der Agentur für auswärtige Arbeitsmigration (AELM), die beim Ministerium für Arbeit und Armutsreduzierung der Republik Usbekistan angesiedelt ist. Yuldashev ist dort als Vermittler für Deutschland tätig.
"Vor wenigen Jahren noch ging so gut wie niemand von Usbekistan nach Deutschland zum Arbeiten. Wir vermitteln Menschen mit verschiedenen Qualifikationsniveaus in alle möglichen Branchen. 2020 waren es insgesamt nur zehn, maximal zwölf Personen, 2023 dann schon etwa 470, Tendenz steigend. Aktuell haben wir über 20 Partnerschaften mit deutschen Branchenvertreter*innen sowie einzelnen Arbeitgebern. Die Nachfrage deutscher Arbeitgeber ist jetzt schon so groß, dass wir sie teilweise nicht mehr bedienen können.
Zum Beispiel nach unseren LKW-Fahrern: Letztes Jahr haben wir rund 50 Fahrer vermittelt. Dass es nicht noch mehr sind, liegt auch an den vielen Vorgaben. Außer Deutschkenntnissen und Berufserfahrung müssen usbekische Fahrer in Deutschland einen Führerschein-Zusatz machen. Das dauert mindestens sechs Monate, in denen sie vom Arbeitgeber nur ein Stipendium von rund 800 Euro bekommen. Danach bleibt ein Risiko, denn wer mehrmals durch die Prüfung fällt, muss ausreisen. Da entscheiden sich doch viele lieber für Länder mit weniger Auflagen, in denen sie direkt volles Gehalt bekommen. Bislang gingen die meisten Usbek*innen zum Arbeiten nach Russland oder nach Südkorea, mit beiden Ländern gibt es langjährige Abkommen. Aktuell beobachten wir, dass mehr Menschen in EU–Mitgliedstaaten wie Deutschland vermittelt werden wollen. Es ist nicht mal so, als würde man in Deutschland unterm Strich viel besser verdienen als in Russland, aber: Deutschland gilt als sicher.
Deutschland hat, was die Sprachkenntnisse angeht, insgesamt größere Hürden, aber da hilft die usbekische Regierung ihren Bürger*innen: Sie erhalten, während sie einen Intensiv-Deutschkurs besuchen, sechs Monate lang Arbeitslosengeld. Unser Investment zahlt sich aus: Arbeitsmigrant*innen, die irgendwann nach Usbekistan zurückkommen, bauen sich etwas Schönes auf. Sie gründen eine Klinik oder ein kleines Unternehmen. Ein Migrationsabkommen ist für Usbekistan wie für Deutschland eine gute Sache."
Kenia
Sophia Njiru, Expertin zu kenianischer Arbeitsmigration. Njiru war lange bei der Gewerkschaft KUDHEIHA tätig, die sich für die Rechte von Arbeitnehmer*innen in Bildungs- und Dienstleistungsberufen einsetzt. Njiru engagiert sich auch ehrenamtlich für die Rückführung von Kenianer*innen, die aus dem Libanon in ihr Heimatland zurückkehren wollen.
"Deutschland war bislang kein Hauptziel für kenianische Arbeitsmigration. Es ist gut möglich, dass ein Migrationsabkommen hier mehr Bewegung rein bringt. Auch wenn Sprachkenntnisse eine Hürde sind: Ein Abkommen mit Deutschland dürfte viele hier interessieren. Vor allem Arbeitskräfte mit mittlerem Bildungsstand könnten sich dadurch neu angesprochen fühlen. Personen, die sehr gut gebildet sind, beschaffen sich die nötigen Informationen auch so. Bislang wanderten kenianische Fachkräfte – vor allem Pflegekräfte – meist nach Kanada oder Großbritannien aus, mit den Ländern gibt es entsprechende bilaterale Abkommen. In den letzten Jahren schloss die kenianische Regierung mehrere Abkommen, etwa mit Golfstaaten wie Saudi-Arabien oder Katar, ab. Dorthin werden Kenianer*innen in der Regel für befristete Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor vermittelt. Aktuell verhandelt Kenia insgesamt 13 weitere bilaterale Abkommen. Was darin jeweils steht, kann man leider nicht öffentlich einsehen.
Die Auswanderung ihrer Staatsbürger*innen ist ganz im Sinne der kenianischen Regierung, denn: Kenianer*innen sind immer besser gebildet, auch dank der wachsenden Zahl der Universitäten im Land. Auf dem hiesigen Arbeitsmarkt kommen aber nicht alle unter. Entgegen seinen Versprechungen hat der Präsident es nicht geschafft, in Kenia mehr Jobs für junge Leute zu schaffen. Wenn sie auswandern, nimmt das einerseits innenpolitisch Druck raus und bringt Kenia Einnahmen aus Rücküberweisungen der Arbeitsmigrant*innen."
Indien
Amrita Datta, promovierte Soziologin. Datta hat ein Buch über die indische migrantische Community in Deutschland geschrieben. Sie arbeitet an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld.
"Deutschland ist nicht das erste Land, mit dem Indien eine Migrationspartnerschaft eingegangen ist, es gibt Abkommen mit vielen Ländern, darunter die USA, Frankreich oder Australien. Durch den Commonwealth besteht eine lange Tradition der Auswanderung aus Indien und in vielen Ländern lebt eine große indische Community. Indien hat eine große junge Bevölkerung, die teils sehr gut ausgebildet ist, aber für viele gibt es keine Jobs. Indien hat ein Interesse daran, dass sie Arbeit finden.
Zudem ist das Land auf die Rücküberweisungen der Community aus anderen Ländern angewiesen. Weltweit gehen die meisten Rücküberweisungen nach Indien, sie machen schätzungsweise 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und sind wichtig für die wirtschaftliche Stabilität. Die indische Regierung mobilisiert die Menschen im Ausland regelrecht, sich als Teil der Diaspora zu sehen und Rücküberweisungen zu zahlen.
Deutschland ist für indische Migrant*innen – insbesondere für gut ausgebildete IT-ler – neben den USA, Kanada und Australien, aktuell ein beliebtes Ziel und das beliebteste Ziel in der EU. Es muss sich aber fragen, was man den Leuten anbieten kann: Viele sind gefragt und hoch mobil – können also leicht in ein anderes Land weiterziehen, wenn ihnen die Bedingungen vor Ort nicht gefallen."
Republik Moldau
Jana Stöxen, Kulturwissenschaftlerin an der Universität Regensburg. Forscht im Rahmen ihrer Dissertation zu transnationaler Migration zwischen der Republik Moldau und Deutschland.
"Das Interesse der moldauischen Regierung an Abkommen mit Europa ist groß. Der Hauptgrund: Im Präsidentschafts-Wahljahr 2024 gilt so ein Abkommen als geopolitische Absicherung und ein Schritt in Richtung Europäisierung. Was ein Migrationsabkommen mit Deutschland der moldauischen Regierung und den Bürger*innen letztlich bringt, das wird man erst hinterher sehen. Also ob Moldauer*innen neue Einreisemöglichkeiten nach Deutschland erhalten und ihre Berufs- und Studienabschlüsse anerkannt werden.
Bislang bleibt für viele Moldauer*innen, die in die EU einreisen und dort arbeiten wollen, nur der Umweg über die rumänische oder bulgarische Staatsangehörigkeit; diejenigen, die familiäre Bezüge zu einem der Länder nachweisen können, versuchen, einen Pass zu erhalten. Wenn sie dann nach Deutschland kommen, beobachte ich leider häufig, dass sehr viele Menschen unter ihrem Qualifikationslevel arbeiten. Die Moldauer*innen, die in Deutschland – zumeist erfolglos – Asyl beantragen, sind deutlich weniger. Sie sind leider oft irregulär beschäftigt und in einer prekären Lage, insbesondere moldauische Rom*nja, die in Moldau wie in Deutschland Diskriminierung ausgesetzt sind."
Kolumbien
Alejandra León Rojas, promovierte Philosophin und Migrationsforscherin an der Universidad de Antioquia, Kolumbien.
"Von kolumbianischer Seite gibt es keine klare Strategie, was die Migrationspolitik und das Abkommen anbelangt. Deutschland sucht sich Unterstützung bei Abschiebungen jetzt auch in Lateinamerika, obwohl es nicht um viele Personen geht. Was die Auswanderung betrifft: damit hat Kolumbien zu kämpfen. Gerade verlassen qualifizierte Personen insbesondere aus dem Pflegesektor das Land, die dann hier beispielsweise in ländlichen Gegenden fehlen.
Viele Kolumbianer*innen wollen einfach nur gehen, wegen der Gewalt und der politischen und wirtschaftlichen Situation – vor allem in die USA, nach Spanien, aber auch Deutschland. Sie haben nicht unbedingt die Perspektive, wieder zurückzukehren. Einige nehmen ja einen extrem aufwändigen und – gerade in die USA – gefährlichen Weg auf sich. Es gibt hier viel Werbung für Migration ins Ausland, die auch die Medien teilen und teils falsche Vorstellung von der Situation und den Löhnen in anderen Ländern vermitteln."
Kirgisistan
Dshumangul Sarkybaewa, Dozentin für medizinische Fachsprache im Pflegekräfte–Vermittlungsprojekt Eduviso, Germanistikdozentin und Arbeitsvermittlerin für Kurzzeitverträge.
"In Kirgisistan ist das Interesse, zum Arbeiten nach Deutschland zu gehen, in den letzten Jahren sehr stark gestiegen. Einen großen Anteil am Migrationsgeschehen machen Saisonarbeiter*innen aus, die während der Semesterferien für zwei, drei Monate nach Deutschland gehen. Es wandern aber auch immer mehr Fachkräfte längerfristig aus, um in Deutschland ihrem Beruf nachzugehen – zum Beispiel Pflegekräfte: Im Vermittlungsprojekt Eduviso in Bischkek etwa lernen angehende Pflegekräfte neben ihrer fachlichen Qualifizierung parallel Deutsch mit medizinischer Spezialisierung.
Arbeitsauswanderung von Mediziner*innen aus Kirgisistan ist schlicht im Interesse beider Länder. Unsere Regierung will wohl die Arbeitslosigkeit hier bekämpfen. Es ist noch nicht lange her, da musste ich als Sprachdozentin richtig dafür kämpfen, um in Kirgisistan Deutsch lehren zu können: Vor 15 Jahren wurde meine Germanistiklehrstuhl mit der Begründung geschlossen, Deutsch lernen bringe Kirgis*innen nicht weiter. Heute gibt es in Bischkek viele vermeintliche Sprachschulen – oft von Kirgis*innen, die gerade mal einen Sommer lang zur Saisonarbeit in Deutschland waren. Bevor unsere Leute im Ausland arbeiten können, müssen sie aber wirklich zuallererst gute Grundlagen haben."
Georgien
Anna Phirtskhalashvili, Professorin für öffentliches Recht und Vizerektorin der Georgischen Nationaluniversität (SEU) in Tiflis. Phirtskhalashvili forscht unter anderem zu zirkulärer Migration zwischen Georgien und Deutschland.
"Die georgische Regierung ist, was Arbeitsauswanderung ihrer Landsleute angeht, in einer Zwickmühle: Wenn Fachkräfte wie Mediziner*innen und IT-ler auswandern, fehlen sie hier. Andererseits: Viele Georgier*innen wollen schlicht im Ausland arbeiten und besser verdienen. Eine Lösung wurde bislang in der zirkulären Migration gesehen, die Fachkräften kurzzeitiges Arbeiten im Ausland ermöglicht. Entsprechende Verträge mit Deutschland und anderen EU–Staaten wurden um 2015 abgeschlossen, damit erfüllte die damalige Regierung ein Wahlversprechen.
Die Zahl der Georgier*innen, die darüber nach Deutschland gingen, sank 2020/21; damals wurde bekannt, dass viele in Deutschland zu sehr schlechten Konditionen arbeiteten. Die Opposition schlachtete das aus und warf der Regierung vor, ihre Staatsbürger*innen im Ausland als Sklaven anzubieten. Ich vermute, dass jetzige Migrationsabkommen war ein Versuch, damit vorsichtiger umzugehen.“
Von Martha Otwinowski und Andrea Pürckhauer
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