MEDIENDIENST: Die EU hat gerade ein Abkommen mit Tunesien geschlossen, das eine strengere Migrationskontrolle durch die tunesischen Behörden vorsieht. Wird dieses Abkommen dazu führen, dass weniger Flüchtlinge und Migrant*innen von Tunesien nach Südeuropa kommen?
Ahlam Chemlali: Nein. Meine Forschung und Studien verschiedener Wissenschaftler aus der ganzen Welt haben gezeigt, dass die Schließung bestimmter Routen Migration nicht aufhalten kann. Die Flucht wird dadurch nur gefährlicher: Die Menschen nehmen neue, schwierigere Routen, weil der Druck, migrieren zu müssen, ja nicht geringer geworden ist.
Was bedeutet das konkret für die Route Tunesien-Italien?
Im Moment ist die Stadt Sfax der wichtigste Startpunkt für Menschen, die nach Italien übersetzen wollen. Die tunesischen Behörden verstärken derzeit die Grenzkontrollen in der Gegend. Infolgedessen verlagern sich die Abfahrtsorte. Momentan wird etwa Zarzis, eine weiter südlich gelegene tunesische Stadt, zu einem neuen Ausgangspunkt, wodurch der Weg nach Italien noch länger und gefährlicher wird.
Wie kann die tunesische Regierung dann ihr Versprechen einhalten, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, die nach Europa aufbrechen?
Sie kann es nicht. Selbst wenn die Küstenwache die Boote abfängt, werden die Menschen immer wieder versuchen, das Land zu verlassen. Bei meiner Feldforschung habe ich Mitarbeiter der tunesischen Küstenwache befragt: Sie sind extrem frustriert, weil sie immer wieder dieselben Menschen auf den Booten erkennen. Auch die offiziellen Zahlen deuten darauf hin: Im Moment haben wir eine Rekordzahl von Fliehenden, die von der tunesischen Küstenwache abgefangen werden – und gleichzeitig eine Rekordzahl an Menschen, die aus Tunesien in Italien ankommen.
Ahlam Chemlali ist Doktorandin am Danish Institute for International Studies (DIIS) und an der Aalborg Universität in Kopenhagen und derzeit Gastwissenschaftlerin an der Yale University. Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren zu Migration in Nordafrika, im Mittelmeerraum und in Südeuropa. Eines ihrer Schwerpunktländer ist Tunesien, wo sie mehrere Feldforschungsprojekte durchgeführt hat.
Was passiert mit den Menschen, die abgefangen werden?
Das ist der Grund, warum sie immer wieder versuchen zu gehen: Mit ihnen passiert gar nichts. Manche Menschen werden einfach in großen Lagern in der Wüste ausgesetzt, andere werden in den Städten zurückgelassen. In Tunesien gibt es keinen politischen oder rechtlichen Rahmen für Migration, kein Asylsystem, kein Integrationssystem wie in Europa. Die Menschen haben keine Möglichkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen oder Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten.
Es gibt keine Möglichkeit, in Tunesien Asyl zu beantragen?
Der tunesische Staat hat kein Asylsystem. Die einzige Unterstützung, die es gibt, ist das UNHCR, das ist aber völlig unterausgestattet und unterfinanziert. Nur sehr wenige Menschen können vom UNHCR unterstützt werden und selbst die bekommen nicht grade viel: Wer einen UNHCR-Flüchtlingsausweis erhält, hat immer noch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu den Sozialsystemen.
...Hinzu kommen die jüngsten Berichte über Migranten und Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika, die auf offener Straße verfolgt, willkürlich verhaftet und in der Wüste ausgesetzt werden.
Ja. Präsident Saied verbreitet Verschwörungserzählungen über einen angeblichen "großen Austausch", also rassistische Phantasien über Schwarze, die die tunesische Bevölkerung ersetzen wollen würden. Dies hat zu massiven Verfolgungen von Personen aus Subsahara-Afrika, aber auch von Schwarzen Tunesiern geführt. Sie wurden auf der Straße schikaniert, verprügelt und ausgeraubt. Die tunesischen Behörden haben Hunderte von Menschen in Busse gesteckt und in die Wüste gebracht, einige von ihnen sind dort verdurstet. Selbst jetzt hat sich Präsident Saied nicht von seiner Politik verabschiedet, sondern bezeichnet die Behandlung "human". Er ist dabei, Tunesien wieder zu einem autoritären Land zu machen – und genau in diesem Moment entscheidet sich die EU dafür, einen Deal mit ihm zu einzugehen.
Der tunesische Präsident Saied will offensichtlich keine Personen aus Subsahara-Afrika im Land haben, unterzeichnet aber dennoch ein Abkommen mit der EU, in dem er verspricht, sie im Land zu behalten. Warum?
Tunesien befindet sich derzeit nicht nur in einer großen politischen, sondern auch in einer wirtschaftlichen Krise. Das Land braucht Kredite und Unterstützung sowohl vom Internationalen Währungsfonds als auch von den EU-Mitgliedstaaten. Tunesien steht mit dem Rücken zur Wand und hat diesem Teil des Migrationsabkommens zugestimmt, weil es die anderen Teile – wie die finanzielle Unterstützung – braucht.
Was bedeuten die verstärkten Grenzkontrollen für die tunesische Gesellschaft?
Für sie ist der Deal ebenfalls ein herber Rückschlag: Viele Tunesierinnen und Tunesier versuchen aufgrund der vielfältigen Krisen, das Land zu verlassen. Mit den von der EU verhängten Grenzkontrollen wird die Bevölkerung quasi im eigenen Land eingesperrt. Und, um eine weit verbreitete Annahme zu entkräften: Diese Politik betrifft nicht nur junge Männer. Die Auswanderung aus Tunesien hat in den letzten Jahren einen demografischen Wandel erfahren, heutzutage verlassen immer mehr Frauen und sogar ganze Familien das Land.
Sowohl Drittstaatsangehörige als auch tunesische Staatsbürger versuchen, die tunesischen Grenzkontrollen zu umgehen. Gibt es ein Schmugglernetz wie in den Nachbarländern?
Der Schmuggel funktioniert in Tunesien anders als in anderen afrikanischen Ländern. Hier gibt es kein großes Schmugglernetz oder gar eine Art Mafia. Es gibt keine heimliche Beteiligung des Staates oder staatsähnlicher Akteure wie in Eritrea oder Libyen. Stattdessen gibt es zwei Formen der Organisation von Migration: Erstens die so genannte "Selbst-Schleusung" (self-smuggling), bei der die Menschen ihre Reise selbst organisieren. Diese Strategie wird vor allem von Tunesiern angewandt. Sie sammeln untereinander Geld, besorgen sich dann ein Boot und Benzin, einer von ihnen steuert das Boot und dann fahren sie gemeinsam los. Viele haben Erfahrung mit dem Steuern von Booten, weil sie in Küstennähe aufgewachsen sind oder früher in der Fischerei gearbeitet haben.
Was ist mit den Personen, die aus Subsahara-Afrika kommen, schmuggeln sie sich auch „selbst“?
Nein. Sie kennen sich in der Regel nicht mit Booten aus, da die meisten von ihnen nicht aus Küstengebieten kommen. Und ihnen fehlen persönliche Verbindungen in den tunesischen Küstenstädten. Sie sind eher auf Mittelsmänner angewiesen, die sie mit Menschen an der Küste zusammenbringen – was die zweite Form der Organisation von Migration darstellt. Aber auch hier handelt es sich nicht um eine große mafiöse Struktur, sondern meist um Fischer, die mit Fischfang nicht genug Geld verdienen und durch die Unterstützung der Migrat*innen ein zusätzliches Einkommen haben.
Die EU-Kommission behauptet, dass das Abkommen zwischen Tunesien und der EU dazu führen werde, dass Migranten auf hoher See gerettet und somit Leben gerettet werden, und der Menschenschmuggel bekämpft wird.
Die EU nennt es Rettung, aber es ist ein Abfangen. Die Menschen, die auf See abgefangen werden, wollen das nicht, sonst hätten sie ihre Reise nicht angetreten. Der Begriff "Rettung" ist nur dann richtig, wenn sich ein Boot in Seenot befindet. Was die Rettung von Menschenleben betrifft: Meine jahrelange Forschung und die vieler anderer Migrationsforscher lassen das Gegenteil vermuten. Dieser Migrationsdeal wird wahrscheinlich zu längeren, gefährlicheren und damit tödlicheren Migrationsrouten führen. Der Deal wird die Schleuser-Systeme nicht schwächen, sondern stärken. Da die Reise immer schwieriger wird, brauchen die Menschen mehr und nicht weniger Hilfe von Schmugglern.
Interview: Donata Hasselmann
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