MEDIENDIENST: Die Europäische Union wirft dem belarusischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vor, Migrant*innen aus anderen Ländern zu benutzen, um eine Krise an den EU-Grenzen zu schaffen. Was will Lukaschenko damit erreichen?
Kelly Greenhill: Das ist noch nicht ganz klar – zumindest nach bisher öffentlich zugänglichen Informationen. Es könnte sein, dass Lukaschenko einfach Vergeltung an der EU für die Sanktionen und der anhaltenden Kritik an seinem Regime üben möchte. Wenn das der Fall ist, ist das ein Beispiel für das, was ich als "exportive engineered migration" (gesteuerte, exportierende Migration) bezeichne. Regierungen wollen damit den Zielstaat in Verlegenheit bringen, verunsichern oder destabilisieren.
Alternativ könnte es sein, dass Lukaschenko die EU dazu bringen will, ihre Sanktionen gegen Belarus aufzuheben und ihn trotz der Wahlbetrugs-Vorwürfe als legitimes Staatsoberhaupt anzuerkennen. Wenn das der Fall ist, betreibt Lukaschenko das, was ich als "coercive engineered migration" (gesteuerte, erzwingende Migration) bezeichne. Regierungen wollen damit dem Zielstaat politische, militärische oder wirtschaftliche Zugeständnisse abringen.
Ist Lukaschenko der erste Staatschef, der Schutzsuchende und Migrant*innen auf diese Weise instrumentalisiert?
Nein, das Inszenieren und Ausnutzen von – tatsächlichen oder mutmaßlichen – Migrationskrisen hat eine sehr lange Geschichte. Meine Forschung hat ergeben, dass es allein seit Mitte des letzten Jahrhunderts über 75 solcher Fälle gab. Und die tatsächliche Zahl könnte noch viel höher sein, da Staaten, die diese Druckmittel einsetzen, das nicht immer öffentlich tun. Auch die betroffenen Zielstaaten haben oft kein Interesse daran, dass öffentlich wird, dass sie unter Druck gesetzt werden.
Bekommen die Regierungen, die Schutzsuchende instrumentalisieren, meistens das, was sie wollen?
Meiner Forschung zufolge haben Regierungen, die Migrant*innen und Flüchtlinge zu strategischen Zwecken einsetzen, in etwa 75 Prozent der Fälle zumindest einige ihrer Ziele erreicht, und in etwa 57 Prozent der Fälle sogar praktisch alle ihrer Ziele. Allerdings wird "Migration als Waffe" nur selten als politisches Mittel der ersten Wahl eingesetzt. Der strategische Einsatz von Migration hat also womöglich deshalb eine so "hohe" Erfolgsquote, weil er nur gegen sorgfältig ausgewählte, wahrscheinlich anfällige Ziele eingesetzt wird.
Dr. KELLY M. GREENHILL ist 2020-21 Leverhulme Trust-Gastprofessorin an der SOAS (London, UK). Die Politikwissenschaftlerin gehört auch der Fakultät der Tufts University und des Massachusetts Institute of Technology (Region Boston, USA) an. Greenhill hat zahlreiche Bücher und Artikel über internationale Politik, Migration und Flüchtlinge sowie nationale Sicherheit und Außenpolitik veröffentlicht, darunter das preisgekrönte Buch Weapons of Mass Migration: Forced Displacement, Coercion and Foreign Policy.
Könnten Sie einige Beispiele aus den letzten Jahren nennen, in denen Migrant*innen und Flüchtlinge für politische Zwecke instrumentalisiert wurden?
Wenn wir bei Belarus bleiben: Es ist nicht das erste Mal, dass Lukaschenko Schutzsuchende als Instrument benutzt. Anfang der 2000er Jahre drohte er mindestens zweimal, die belarusischen Landesgrenzen zu öffnen.
Wenn wir Europa anschauen, gibt es zum Beispiel den damaligen jugoslawischen Präsident Slobodan Milosevic: Er versuchte im Vorfeld des Kosovo-Krieges 1999 – erfolglos – die NATO davon abzuhalten, sein Land zu bombardieren, indem er mit Migrationskrisen drohte. Später wollte er die NATO zwingen, die laufenden Bombardierungen einzustellen, indem er zunächst damit drohte und dann tatsächlich die Auswanderung von mindestens 800.000 Kosovo-Albaner*innen veranlasste.
Nur wenige Jahre später, im Jahr 2004, gelang es dem damaligen libyschen Staatschef Muammar Gaddafi, die Aufhebung der letzten noch bestehenden Sanktionen gegen sein Land zu erwirken. Im Gegenzug versprach er, die wachsende Zahl nordafrikanischer Migrant*innen und Asylsuchender einzudämmen, die potenziell nach Europa kommen könnten. Gaddafi griff in den folgenden Jahren wiederholt zu diesem Mittel, bis er 2011 entmachtet wurde. Die Regierungsparteien, die auf ihn folgten, haben bei mehreren Gelegenheiten versucht, dasselbe zu tun – mit eher gemischten Ergebnissen.
Im Jahr 2016 nutzte die Türkei erfolgreich die Drohung, Europa mit syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen zu "überschwemmen". Dabei verlangte die türkische Regierung von der EU sechs Milliarden Euro an Finanzhilfe, die Wiederaufnahme der Gespräche über die Visafreiheit in der EU und die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche. Zumindest die sechs Milliarden Euro sind im Rahmen des sodann geschlossenen "EU-Türkei-Abkommens" geflossen.
Ende Mai 2021 erlaubte Marokko Tausenden von Migranten den Grenzübertritt ins spanische Ceuta, um Spanien zu bestrafen und gleichzeitig unter Druck zu setzen. Inhaltlich ging es darum, dass der Anführer der Polisario-Front in Spanien zur medizinischen Behandlung aufgenommen wurde. Die Polisario-Front ist eine separatistische Bewegung, die für die Unabhängigkeit der von Marokko annektierten ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara kämpft.
Gibt es einen guten Ausweg aus solchen Situationen?
Nicht wirklich. Regierungen, die mit so etwas konfrontiert sind, haben mehrere Möglichkeiten. Aber keine ist wirklich gut. Das Zielland kann den Forderungen nachgeben, doch birgt das natürlich das Risiko, dass sich solche Instrumentalisierungen wiederholen oder noch gesteigert werden. Alternativ können die Zielländer militärische Gegenmaßnahmen ergreifen. Aber Kriege sind kostspielig, und ihr Ausgang ist ungewiss. So wurde etwa Gaddafi entmachtet, aber die Instrumentalisierung von Flüchtlingen dort geht weiter. Die anschließende Instabilität im Land und in der Region erweckt zudem nicht gerade Vertrauen in diese Option des Regimewechsels.
Alternativ können die Zielregierungen an ihre Bevölkerung appellieren, die Migrant*innen willkommen zu heißen, indem sie die langfristigen wirtschaftlichen Vorteile der Migration betonen, insbesondere für Länder mit sinkenden Geburtenraten und Steuereinnahmen. Umgekehrt können die Zielstaaten ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aufkündigen und ihre Grenzen schließen. Aber nur weil sie es können, heißt das nicht, dass sie es auch tun sollten.
Polen – oder die EU als Ganzes – scheinen sich für die letztere Option entschieden zu haben: Die Grenze zu Belarus ist geschlossen, und es gab viele Berichte über Pushbacks von Flüchtlingen durch die polnische Grenzpolizei an der belarusisch-polnischen Grenze.
Das ist richtig. Da Polen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat, stellen diese Zurückweisungen einen Völkerrechtsbruch dar. Darüber hinaus ermuntert diese Haltung oft andere Staaten, diesem Beispiel zu folgen. Sie stellt eine Abkehr von den wichtigsten Werten der liberalen Demokratien dar. Letztendlich könnten die langfristigen Kosten für die liberalen Werte und das Selbstverständnis der betroffenen Staaten weitaus höher sein. Höher als die kurzfristigen humanitären und assimilationsbedingten Kosten, die durch die Aufnahme von Migrant*innen und Flüchtlingen entstehen – den eigentlichen Opfern dieser Art von Zwang.
Im Moment werden Flüchtlinge in Medien häufig als "Waffen" bezeichnet, die Lukaschenko gegen die EU einsetzt. Was halten Sie von diesem Begriff?
Es geht nicht um die Wortwahl, sondern um die Bedingungen, die ein solches Verhalten fördern und ermöglichen. Wie ich bereits sagte, werden Menschen schon seit sehr, sehr langer Zeit als Druckmittel eingesetzt. Ob man Menschen als „Waffen“ bezeichnet oder nicht, ist nicht der springende Punkt. Man muss die strategisch gesteuerte Migration nicht als Waffe bezeichnen, damit sie funktioniert. Worte und Rhetorik sind zwar wichtig. Aber es ist nicht das Wort oder die Rhetorik, die bewirken, dass Machthaber damit politische und militärische Ziele erreichen.
Interview: Donata Hasselmann
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