Seit Ende Mai lässt Belarus Flüchtlinge ins Land einreisen und bringt sie an die EU-Grenzen. Die EU konnte im Sommer eine Direktroute vom Irak nach Minsk stoppen, indem sie diplomatischen Druck auf die Regierung in Bagdad ausübte. Die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten kommen dennoch über Umwege nach Belarus, derzeit vor allem über Istanbul, Dubai oder Damaskus. Polen hat im August mit dem Bau eines Grenzzauns begonnen. Aber was passiert an der polnisch-belarusischen Grenze? Welche Rechte und Perspektiven haben die Flüchtlinge? Und was sollten Deutschland und die EU angesichts der humanitären Krise tun? Darüber haben wir mit Expert*innen gesprochen.
REFERENT*INNEN
Jakub Górnicki ist Leiter der unabhängigen Redaktion Outriders in Polen. Er ist Koautor eines Berichts über die Migrationsroute vom Nahen Osten nach Belarus.
Kornelia Trytko arbeitet für die NGO Fundacja Ocalenie, die Flüchtlingen an der polnisch-belarussischen Grenze hilft.
Katarzyna Przybysławska ist Anwältin für Menschenrechte beim Zentrum für Rechtshilfe (Centrum Pomocy Prawnej) und gibt Flüchtlingen Rechtsbeistand.
Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow für Globale Fragen bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) und berät die Bundesregierung und internationale Organisationen zu Asyl- und Migrationspolitik.
STATEMENTS DER REFERENT*INNEN (AUSZÜGE)
Jakub Górnicki, Redaktion Outriders
"Die Menschen, die ins Flugzeug nach Belarus einsteigen, sind oft verzweifelt. Sie hoffen auf eine schnelle Einreise in die EU. Für den Flug brauchen sie ihre letzten Ersparnisse auf, verkaufen ihren Besitz oder verschulden sich. Falls sie Dokumente und Geld haben, können sie ganz einfach im Reisebüro ein Ticket nach Minsk kaufen – als würden sie einen Urlaub buchen.
Die EU will politisch nichts riskieren und setzt sich deshalb nicht für die Flüchtlinge ein. Die Einzigen, die etwas tun, um die humanitäre Krise an der Grenze zu Belarus aufzufangen, sind Aktivist*innen vor Ort."
Kornelia Trytko, NGO Fundacja Ocalenie
"Die Flüchtlinge, die wir in Polen in der Nähe der Grenze zu Belarus treffen, sind in sehr schlechter Verfassung. Sie sind völlig durchnässt und entkräftet. Viele wollen einfach in die EU, wissen aber nicht, was sie erwartet.
Die polnische Regierung behauptet, die EU würde sie dazu drängen, gefährliche Menschen aufzunehmen. Diese Erzählung befeuert sie zusätzlich durch Desinformationskampagnen gegen die Flüchtlinge."
Katarzyna Przybysławsk, Menschenrechtsanwältin
"Viele Flüchtlinge werden vom polnischen Grenzschutz zurückgedrängt, bevor sie einen Asylantrag stellen können. Dieses Vorgehen bricht eindeutig mit mehreren internationalen Menschenrechtskonventionen wie auch mit der polnischen Verfassung. Eigentlich ist rechtlich vorgesehen, dass jede Person einen Asylantrag stellen kann, sobald sie sich auf polnischem Territorium befindet – unabhängig davon, ob sie vorher eine Einreiseerlaubnis hatte.
Seit Ende Oktober erschweren Gesetzesänderungen Flüchtlingen die Antragsstellung zusätzlich: Zum Beispiel kann die polnische Ausländerbehörde seitdem Anträge einfach unbearbeitet lassen."
Steffen Angenendt, Stiftung für Wissenschaft und Politik
"Die nervöse Reaktion der deutschen Regierung und Medien steht nicht im Verhältnis dazu, wie viele Menschen über Belarus nach Deutschland kommen. Wegen des polnischen Grenzzaun-Baus ist eher zu erwarten, dass die Zahl abnimmt. Außerdem ist die Einreise per Flugzeug ziemlich teuer – viele Menschen in Krisenregionen können sich diese schlicht nicht leisten. Eine 'Masseneinwanderung' wie 2015, wie sie einige hierzulande befürchten, ist daher unwahrscheinlich.
Die EU hat sich erpressbar gemacht, weil sie es nicht geschafft hat, Flüchtlinge gerecht zu verteilen. Es ist aber nicht zu erwarten, dass andere Staaten Lukaschenkos Erpressungs-Strategie kopieren werden: Zum einen hat er seine Ziele nicht erreicht, denn die EU-Sanktionen gegenüber Belarus bestehen weiter. Zum anderen gerät die Situation in Belarus zunehmend außer Kontrolle, da immer mehr Flüchtlinge im Land bleiben."
Von Martha Otwinowski
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