Im Dezember 1992 beschloss die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP gemeinsam mit der SPD den sogenannten "Asylkompromiss". Dabei einigten sich Regierung und Opposition auf eine Reform des Grundgesetzes, die das Recht auf Asylschutz deutlich einschränkte. Vorausgegangen war eine sehr emotional geführte Debatte darüber, ob Deutschland "zu viele" Asylsuchende aufnimmt. In jenem Jahr erreichte die Zahl der Asylbewerber 430.000. Nach dem Kompromiss sank sie dramatisch.
In den vergangenen Jahren stieg die Zahl erstmals wieder. 2014 werden nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mehr als 200.000 Menschen Asyl in Deutschland beantragen – der höchste Wert seit rund 20 Jahren. Die wachsende Zahl wurde von einer Diskussion begleitet, die Parallelen zur damaligen "Asyldebatte" aufweist. Heute wie damals wird sie emotional geführt und die Zahl der Übergriffe auf Asylbewerberheime ist, wie in den 90er Jahren, erheblich gestiegen. Und auch die politischen Entscheidungen von Regierungskoalition und Opposition erinnern an den Asylkompromiss von 1992: strengere Regeln für die Aufnahme und Abschiebung im Austausch gegen bessere Bedingungen beim Aufenthalt.
Streit zur Frage: Wer ist Schutzbedürftig?
Einer der umstrittensten Punkte der Debatte betrifft die Frage: Wem soll man Schutz gewähren? Denn Asylbewerber ist nicht gleich Asylbewerber. Asylsuchende aus dem Westbalkan zum Beispiel – etwa 20 Prozent aller Antragsteller – sind nach Ansicht der Bundesregierung nicht "wirklich" schutzbedürftig.
So hat der Bundestag im Juli beschlossen, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen. Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern sollen somit schneller als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden. Bundeskanzlerin Merkel rechtfertigte die Entscheidung in ihrer Haushaltsrede damit, dass mit der Maßnahme denjenigen mehr geholfen werde, die „dringend unsere Hilfe brauchen“ – in erster Linie Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak.
Entgegen dieser Darstellung wies die Flüchtlingsorganisation PRO ASYL in einem Gutachten darauf hin, dass im Westbalkan Menschenrechte – vor allem die der Roma-Minderheit – weitgehend missachtet werden. Diese Position wurde auch von den Grünen vehement vertreten. Der Gesetzentwurf drohte im Bundesrat an der Opposition der rot-grünen Länder zu scheitern.
Tauziehen im Bundesrat
Daraufhin kam es zu mehreren Treffen zwischen Vertretern der Oppositionspartei und der Union. Letztere bot an, im Austausch für die Unterstützung des Gesetzesvorhabens zu „sicheren Herkunftsländern“ einer Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes zuzustimmen. Diese war längst fällig, nachdem das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren die Leistungen für Asylbewerber als „evident unzureichend“ bezeichnet hatte. Die Grünen verlangten in diesem Zusammenhang die komplette Abschaffung des Gesetzes.
Der Vorschlag schien Anklang bei den Landesregierungen zu finden, denn bislang müssen laut Asylbewerberleistungsgesetz Länder und Kommunen für die Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber aufkommen. Würde man es abschaffen, würden Asylsuchende Zugang zu den üblichen Sozialhilfeleistungen und Krankenversicherung erhalten – Leistungen, die vom Bund getragen werden. In einer Zeit, in der viele Bundesländer und Kommunen die chronische Überlastung der Aufnahmestrukturen für Asylbewerber beklagen, schien der Vorschlag der Grünen deshalb gute Erfolgschancen zu haben.
Die Bundesregierung kommt den Ländern entgegen
Nach langem Tauziehen konnte die Bundesregierung jedoch einen Kompromiss erzielen: Die drei Balkan-Staaten kommen zur Liste der sicheren Herkunftsländer hinzu, ohne dass das Asylbewerberleistungsgesetz komplett abgeschafft wird. Am 19. September verabschiedete der Bundesrat mit den Stimmen der rot-grünen Regierung in Baden-Württemberg das Gesetz zu „sicheren“ Herkunftsländern.
Im Gegenzug dazu konnten sich die Landesregierungen über zwei Maßnahmen freuen: Zum einen wurde das Bauplanungsrecht so geändert, dass neue Flüchtlingsunterkünfte ohne großen bürokratischen Aufwand auch in Gewerbegebieten entstehen können. Zum anderen bekommen Bundesländer und Kommunen eine einmalige finanzielle Unterstützung im Wert von insgesamt einer Milliarde Euro (für zwei Jahre) für den Ausbau der Unterbringungskapazitäten.
Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der in seiner Partei als Pragmatiker gilt, nannte die Vereinbarung in seiner Rede vor dem Bundesrat einen „substantiellen Gewinn für die Praxis“. Einerseits beinhalte die Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes in der endgültigen Fassung „substantielle Verbesserungen“:
- Die Leistungen für Asylbewerber werden an das Hartz IV-Niveau angepasst.
- Die Leistungen sollen ab dem dritten Aufenthaltsmonat als Geldleistungen ausgezahlt werden – und nicht, wie früher, als Sachleistungen.
- Asylbewerber dürfen sich nach 15 Monaten Aufenthalt – und nicht erst nach vier Jahren – gleichberechtigt gegenüber deutschen Staatsbürgern um einen Job bewerben und haben somit Anspruch auf Sozialleistungen nach SGB II.
Andererseits stellte die Bundesregierung mit dem neuen Gesetz zur "Verbesserung der Rechtstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern" entscheidende Fortschritte in Aussicht: mehr Bewegungsfreiheit und einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt.
Um ein Gesetzesvorhaben zu verhindern, bedarf es seit 2013 im Bundesrat auch der Linken. Sie enthielt sich beim Rechtstellungsverbesserungsgesetz. Auch Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL haben den Kompromiss vehement kritisiert, obwohl sie die Fortschritte bei der Rechtstellung und Versorgung von Asylsuchenden begrüßen. Besonders problematisch sei die Tatsache, dass die neue Gesetzgebung den Asylsuchenden keine medizinische Versorgung gewährleistet. Ähnlich äußerte sich auch die Bundesärztekammer in einer Stellungnahme: Nach dem neuen Asylbewerberleistungsgesetz hänge die medizinische Versorgung eines Asylbewerbers nach wie vor von der Meinung des Leistungsträgers über den einzelnen „Notfall“ ab.
Syrische Flüchtlinge profitieren vom Kompromiss nicht
Der Ablauf des aktuellen „Asylkompromisses“ macht deutlich: Die Bundesregierung balanciert zwischen humanitärer Hilfe und Abschottung. Das hat einen Grund: Das Thema ist emotional aufgeladen und spaltet die Gesellschaft. Auf der einen Seite können sich nach einer Umfrage der Bosch Stiftung 66 Prozent der Deutschen vorstellen, Asylbewerber persönlich zu unterstützen. Auf der anderen Seite zeigt eine Umfrage des Spiegels: Fast genauso viele Bürger fühlen sich "übergangen" von der Asylpolitik der Regierung. Wie im Fall des Asylkompromisses 1993 will die Bundesregierung mit der neuen Gesetzgebung zeigen, dass sie das "Problem" erkannt hat und reagiert.
Anfang 2015 soll zudem eine Reform des Aufenthaltsgesetzes im Bundestag diskutiert werden, die zwei Ziele hat: Einerseits Menschen einen Weg in die Legalität zu verschaffen, die seit Jahren ohne Aufenthaltstitel in Deutschland leben und trotzdem "anerkennenswerte Integrationsleistungen erbracht haben". Andererseits dafür zu sorgen, dass Menschen schnellstmöglich das Land verlassen, denen "unter keinem Gesichtspunkt" ein Aufenthaltsrecht zusteht – "gegebenenfalls auch zwangsweise". Das soll auch für die sogenannten „Dublin-Fälle“ gelten, also Asylbewerber, die über andere europäische Länder nach Deutschland einreisen.
Interessanterweise verstößt die Regierungskoalition damit genau gegen den Grundsatz, den die Kanzlerin in ihrer Haushaltsrede als Begründung für das Gesetz zu den „sicheren Herkunftsländern“ heranzog: denjenigen zu helfen, die „am meisten unsere Hilfe brauchen“. Zwar stimmt es, dass die Bundesregierung bereits 10.000 syrische Kriegsflüchtlinge durch Aufnahmeprogramme aus den Flüchtlingslagern in Libanon und Jordanien nach Deutschland geholt hat. Dennoch bleibt es dabei, dass die meisten syrischen Kriegsflüchtlinge nach wie vor illegal nach Deutschland einwandern: Die Zahl der syrischen Flüchtlinge, die bis August in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, ist doppelt so hoch wie die der Kontingentflüchtlinge. Nach dem geplanten Gesetz zum Bleiberecht und zur Aufenthaltsbeendigung müssten sie künftig inhaftiert und schnellstmöglich zur Ausreise gezwungen werden.
Von Fabio Ghelli
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