"Polenwitze", Arbeit in prekären Jobs, Angriffe auf Unterkünfte: Menschen mit Einwanderungsgeschichte aus dem östlichen Europa erlebten und erleben in Deutschland vielfach Diskriminierung, Ausgrenzung und Angriffe. Die Forschungslage zum Thema ist aber dürftig, es gibt so gut wie keine Daten.
Seit der Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 erfuhr das Thema mehr Aufmerksamkeit, wurde aber auch durch russische Propaganda instrumentalisiert. Die Historiker Hans-Christian Petersen und Jannis Panagiotidis geben in einer Expertise für den MEDIENDIENST einen ersten Überblick über den Forschungsstand zum Thema.
Zur vollständigen Expertise hier (PDF)
Was sind antiosteuropäischer und antislawischer Rassismus?
Rassismus gegen Menschen aus dem östlichen Europa kann sich den Autoren zufolge auf zwei Ebenen äußern. Antiosteuropäischer Rassismus beschreibt abwertende Zuschreibungen zum geografischen Raum Osteuropa und seinen Bewohner*innen. Antislawischer Rassismus oder Antislawismus bezieht sich auf den rassistischen Diskurs, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts "Slawen" als eine eigene, minderwertige "Rasse" konstruiert. Es geht jeweils um Fremdzuschreibungen, die nicht den Selbstbeschreibungen der Menschen entsprechen, die damit gemeint sind.
Menschen mit Migrationsgeschichte aus dem östlichen Europa machen mit über 9,5 Millionen Menschen rund 40 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund und rund ein Neuntel der Gesamtbevölkerung aus. Viele von ihnen kamen als Spätaussiedler*innen nach Deutschland.
Es mangelt an Bewusstsein für Rassismus gegen Menschen mit Bezügen zu Osteuropa, das zeigt eine Befragung des Nationalen Rassismusmonitors. Die Autor*innen vermuten als Grund, dass die Personen, die betroffen sind, oft als 'weiß' wahrgenommen werden und daraus geschlossen wird, dass sie nicht von Rassismus betroffen sein können. Zum fehlenden Bewusstsein kommt eine fehlende Datenbasis: Über Ausprägungen, Erfahrungen von Betroffenen und Einstellungen in der Bevölkerung gibt es so gut wie keine Studien. Mehr Forschung gibt es zur Ausprägung des antislawischen Rassismus in der Geschichte.
Antiosteuropäischer und antislawischer Rassismus in der deutschen Geschichte
Deutschland hat eine lange Verflechtungs- und Expansionsgeschichte mit und im östlichen Europa, wie die Autoren aufzeigen. Bereits in der Aufklärung habe "Osteuropa" als eine rückständige Zwischenwelt zwischen Okzident und Orient gegolten. Im Kaiserreich radikalisierte sich die deutsche Haltung gegenüber Osteuropa und nahm koloniale Züge an: etwa mit der gezielten Ansiedlung von Deutschen in polnischen und anderen Gebieten.
Der Vernichtungskrieg im östlichen Europa und der "Generalplan Ost" des NS-Regimes – der eine Kolonisierung Osteuropas sowie die Ermordung bestimmter Bevölkerungsgruppen vorsah – stellten den negativen Höhepunkt deutscher rassistischer Hierarchisierungen und Expansionsprojekte dar. Allein in der Sowjetunion starben rund 27 Millionen Menschen. Einerseits geschah dies infolge des Antisemitismus, der die Ermordung aller Juden und Jüdinnen vorsah. Andererseits wurden große Teile der Bevölkerung als 'slawische Untermenschen' rassistisch abgewertet und dem Hungertod preisgegeben: Millionen sogenannter "Ostarbeiter" wurden gezwungen, im Deutschen Reich unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit zu verrichteten, durch den Aufnäher "Ost" auf ihrer Kleidung stigmatisiert und unterlagen zahlreichen Verboten, wie etwa Kontakte zur deutschen Bevölkerung aufzunehmen.
Nach 1945 – Abwertungen und rassistische Gewalt
Angesichts dieser Geschichte sei davon auszugehen, dass antiosteuropäischer und antislawischer Rassismus nicht mit dem Jahr 1945 endeten, so die Historiker. Erkenntnisse aus der Forschung gebe es dazu aber kaum: Hinweise seien die Abwertungen von osteuropäischen Migrant*innen etwa in Form von "Polenwitzen" oder die Furcht vor massenhafter Zuwanderung aus Osteuropa seit der EU-Osterweiterung. Spätaussiedler*innen und jüdischen Kontingentflüchtlinge – die zwar Privilegien im Vergleich zu anderen Migrationsgruppen erhielten – erlebten Diskriminierung: Ihre Abschlüsse wurden häufig nicht anerkannt und sie mussten prekäre Jobs annehmen.
Hinzu kam rassistische Gewalt: Menschen osteuropäischer Herkunft wurden seit 1990 Opfer rechtsextremer Morde mit rassistischem Motiv, darunter sieben Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und vier Polen. Ihre Namen – wie etwa von Kajrat Batesov, der 2002 in Wittstock angegriffen und beschimpft wurde, und später seinen Verletzungen erlag – sind wenig bekannt. Etwas größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr das Rohrbombenattentat am S-Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn am 27. Juli 2000. Zehn Menschen postsowjetischer Herkunft, darunter sechs Jüdinnen und Juden, wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt, eine schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind.
Anfeindungen und Instrumentalisierung seit dem 24. Februar 2022
Seit der Ausweitung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das Thema mehr Aufmerksamkeit erhalten. Russischsprachige Menschen – häufig fälschlicherweise als "Russ*innen" angesprochen – wurden kollektiv für den Krieg in der Ukraine verantwortlich gemacht. Sie erfuhren Beleidigungen auf der Straße, es gab Boykottaufrufe gegen vermeintliche oder tatsächliche 'russische' Restaurants, und einen Brandanschlag auf die Lomonossow-Schule in Berlin am 11. März 2022. Oft werden Menschen pauschal beschuldigt und angegriffen, von denen die meisten seit vielen Jahren in Deutschland leben und die keine Verantwortung für Russlands Angriffskrieg tragen und oft gar keine Bezüge zu Russland haben.
Gleichzeitig wurde das Thema instrumentalisiert, wie die Autoren aufzeigen: Etwa wurde auf Pro-Putin-Autokorsos als auch auf der Homepage der russischen Botschaft in Deutschland der Eindruck erweckt, alle russischsprachigen Menschen in Deutschland würden diskriminiert und eine Feindschaft gegen alles Russische würde das Handeln 'des Westens' bestimmen. Sowohl der russische Präsident Wladimir Putin als auch Außenminister Sergej Lawrow haben diesen Vorwurf immer wieder erhoben. Hinzu kommen einflussreiche Influencer*innen wie Alina Lipp: Mit dem Schlagwort "Russophobie" und mit Hashtags wie #stophatingrussians wird gezielt versucht, kritische Stimmen gegen Russlands Krieg in der Ukraine zum Schweigen zu bringen.
Ukrainische Geflüchtete erfuhren in Deutschland eine große Aufnahmebereitschaft, im Vergleich zu anderen Geflüchteten lief und läuft ihre Aufnahme unkomplizierter ab. Aber etwa ukrainische Frauen, die die Mehrheit der Geflüchteten ausmachen, bilden eine besonders vulnerable Gruppe. Sie wurden im letzten Jahr in der Popkultur sexualisiert und mussten sexuelle Belästigung erfahren. Hinzu kamen Anfeindungen gegen ukrainische Geflüchtete: Ende 2022 wurden mehrere Anschläge auf Unterkünfte für ukrainische Geflüchtete verübt beziehungsweise auf Orte, die dafür vorgesehen waren.
Für die Autoren bleibt wichtig zu sagen: Es lässt sich in der Regel nicht klären, inwieweit ein allgemeiner Rassismus den Taten zugrunde lag oder ob sie sich – in diesen Fällen – gezielt gegen Ukrainer*innen richteten. Die Beispiele zeigen aber auf, dass auch osteuropäische Menschen Opfer rassistischer Gewalt werden.
Mittlerweile sprechen immer mehr Vertreter*innen betroffener Gruppen öffentlich über antiosteuropäischen und antislawischen Rassismus: Junge Aktivist*innen, die sich als "PostOst" bezeichnen, erzählen auf Social Media über ihre Erfahrungen. Auch in der Literatur schreiben Autor*innen wie Lena Gorelik, Dmitrij Kapitelman oder Natascha Wodin über ihr Leben in Deutschland, aber auch darüber, wie sie Ablehnung bis hin zu Rassismus erfahren haben.
Von Andrea Pürckhauer
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