Dieser Artikel ist ursprünglich am 4.10.2022 erschienen und wurde am 21.12.2022 aktualisiert.
Mehrere deutsche Bundesländer und Kommunen haben im Herbst 2022 Alarm geschlagen, dass ihnen die Unterkünfte für Geflüchtete ausgingen. Zum einen, weil tausende Geflüchtete aus der Ukraine noch in Gemeinschaftsunterkünften leben. Aber auch, weil wieder mehr Geflüchtete aus anderen Ländern nach Deutschland kämen. Die meisten von ihnen sollen über die sogenannte "Westbalkan-Route" gekommen sein.
Tatsächlich haben 2022 mehr Menschen in Deutschland zum ersten Mal einen Asylantrag gestellt als im Vorjahr: Zwischen Januar und November 2022 waren es rund 214.253 Personen – 43 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2021.
Aber werden tatsächlich wieder deutlich mehr Menschen über die "Westbalkan-Route" nach Mitteleuropa kommen? Ein Blick auf die verfügbaren Daten zeigt: Es stimmt, dass wieder mehr Geflüchtete auf verschiedenen Fluchtrouten in Südosteuropa registriert werden. Es wird zudem deutlich, dass die Routen viel komplexer und gefährlicher geworden sind.
Östliches Mittelmeer
Im Jahr 2015 sind fast eine Million (vor allem syrische, afghanische und irakische) Geflüchtete aus der Türkei über Griechenland in die Europäische Union eingereist. Nachdem die Staaten der Europäischen Union im März 2016 mit der Türkei ein Flüchtlings-Abkommen geschlossen hatten, sank die Zahl der Geflüchteten, die aus der Türkei nach Griechenland kamen, stark. Bis heute ist sie weit unter den damaligen Werten geblieben: Zwischen Januar und November 2022 sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR lediglich 17.000 Geflüchtete aus der Türkei nach Griechenland eingereist. Im Gesamtjahr 2021 waren es knapp 9.200 Menschen. Rund ein Viertel von ihnen kam aus Afghanistan.
Im Sommer 2022 ist die Zahl der Personen, die versucht haben, über das östliche Mittelmeer nach Europa zu gelangen, gestiegen (s. Grafik). Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International verweisen dabei auf zunehmende Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge in der Türkei.
Inzwischen versuchen Geflüchtete eher die Insel Zypern zu erreichen. Eine überwiegende Mehrheit der Geflüchteten, die die Seefahrt über die östliche Mittelmeer-Route versuchen, werden aber von der türkischen Küstenwache aufgegriffen. In vielen Fällen wurden Zurückweisungen von Geflüchteten auf hoher See dokumentiert (sogenannte Pushbacks).
Bulgarien
Viele Geflüchtete versuchen inzwischen auch, über die Landgrenzen der Türkei in die Europäische Union zu gelangen. Das ist sehr schwierig und gefährlich: Sowohl entlang der türkisch-bulgarischen als auch der türkisch-griechischen Grenze wurden Grenzmauern errichtet. Es wurden auch zahlreiche gewaltsame Zurückweisungen und andere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert – sowohl von der griechischen als auch der bulgarischen Grenzpolizei.
Sehr wenige Menschen schaffen es, die türkisch-griechische Grenze in der Nähe des Evros-Flusses zu überqueren: Zwischen Januar und September 2022 waren es rund 5.700 Personen. Mehr Geflüchtete konnten über die türkisch-bulgarische Grenze in die EU gelangen: Zwischen Januar und August waren es rund 14.300 Personen. 45 Prozent von ihnen kommt aus Afghanistan, etwa 40 Pozent aus Syrien. Bereits im Sommer 2021 kamen deutlich mehr Geflüchtete über die türkisch-bulgarische Grenze – wahrscheinlich aufgrund der erschwerten Lebensbedingungen in der Türkei.
Serbien
Geflüchtete, die es zum griechischen Festland oder nach Bulgarien schaffen, reisen weiter über eine der zahlreichen Routen, die durch die Balkanhalbinsel führen – in der Regel nach Serbien. Auch auf dieser Route wurden vor allem afghanische und syrische Geflüchtete registriert: Ihr Anteil liegt bei jeweils 36 und 17 Prozent. Es ist schwierig, die genauen Routen zu rekonstruieren. Dem UNHCR zufolge reist die Mehrheit der Geflüchteten durch Nordmazedonien. Hier hat das UN-Flüchtlingshilfwerk zwischen Januar und August 2022 rund 16.700 Grenzübertritte registriert.
Wenige Geflüchtete bleiben lange in Serbien: Im November 2022 waren es laut Angaben des UNHCR etwa 7.200 Menschen – 1.000 von ihnen leben in improvisierten Camps und Unterkünften in der Nähe der EU-Grenzen. Die meisten Geflüchteten versuchen direkt weiter in die Europäische Union zu reisen – entweder nach Ungarn oder nach Kroatien. Sie werden aber sehr oft zurückgewiesen: Im Gesamtjahr 2021 wurden alleine an der serbisch-ungarischen Grenze rund 71.000 "Pushbacks" dokumentiert. Gewaltsame Zurückweisungen finden nicht nur an der serbisch-ungarischen Grenze statt, sondern auch an der Grenze zu Kroatien. Viele Geflüchtete versuchen über Bosnien-Herzegowina in die EU-Länder Kroatien oder Slowenien zu gelangen. Auch hier wurden zahlreiche gewaltsame Zurückweisungen festgestellt.
Von Fabio Ghelli
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