Rund eine Million Menschen aus der Ukraine sind nach Deutschland geflohen. Noch lassen die Zahlen sich nicht genau beziffern, aber es sieht so aus, als würde die Zahl der Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten Schutz in Deutschland gesucht haben, die vom "Flüchtlingssommer 2015" übertreffen. Hinzu kommen rund 115.000 Schutzsuchende aus anderen Ländern, die seit Januar 2022 zum ersten Mal Asyl in Deutschland beantragt haben (Stand: September 2022).
Nun wird die Zahl der Unterkünfte knapp. In fast allen Bundesländern gibt es inzwischen Engpässe, wie eine Recherche des MEDIENDIENSTES zeigt. Zwölf Bundesländer haben laut Medienberichten angekündigt, dass sie keine Flüchtlinge mehr aufnehmen können. Zahlreiche Landkreise und Kommunen melden zudem, dass sie keine Aufnahmekapazitäten mehr haben.
Wie kam es zur aktuellen Situation? Und wie sieht die Verteilung von Geflüchteten aus? Der MEDIENDIENST hat bei den zuständigen Ministerien der Länder nachgefragt.
1. In welchen Bundesländern sind die meisten Geflüchteten aus der Ukraine?
Die Bundesländer erfassen die Zahl der im Land registrierten Geflüchteten aus der Ukraine sehr unterschiedlich. Einige beziehen sich auf Daten des Ausländerzentralregisters, während andere die Zahl der in Aufnahmeeinrichtungen registrierten Personen berücksichtigen. In beiden Fällen handelt es sich um Schätzungen, denn es ist nicht bekannt, wie viele Geflüchtete wieder fortgezogen sind. Die meisten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wohnen in folgenden Ländern (Zahlen aufgerundet, Stand September 2022):
- Nordrhein-Westfalen: 211.000
- Bayern: 153.000 Personen
- Baden-Württemberg: 125.000
- Niedersachsen: 100.000
- Hessen: 84.000
2. Wie viel Platz gibt es noch?
Noch Ende Juni 2022 hatten die zuständigen Ministerien der meisten Bundesländer auf Anfrage des MEDIENDIENSTES mitgeteilt, dass es in ihren Aufnahmeeinrichtungen ausreichend Kapazitäten gebe. Das hat sich im Laufe des Sommers geändert. Obwohl alle Bundesländer ihre Aufnahmeinfrastruktur ausgebaut haben, melden inzwischen fast alle zuständigen Ministerien, dass ihre regulären Aufnahmekapazitäten ausgeschöpft sind. Es werden verstärkt Notunterkünfte in Hallen, Hotels und Gewerbeimmobilien genutzt. Mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz planen alle Bundesländer einen zusätzlichen Ausbau der Aufnahmeplätze. Das Bundesinnenministerium teilte dem MEDIENDIENST mit, der Bund prüfe gerade, wie er die Länder stärker bei der Unterbringung unterstützen könne. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs seien 318 Bundesliegenschaften der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben bereitgestellt worden.
3. Wie kam es zur aktuellen Überlastung?
Zwei Gründe nennen die Ministerien für die starke Belastung des Aufnahmesystems: Zum einen ist die Zahl der nicht-ukrainischen Asylbewerber*innen im Vergleich zu den vergangenen Jahren wieder gestiegen (siehe Grafik).
Zum anderen leben noch viele ukrainische Geflüchtete in Aufnahmeeinrichtungen. Einige von ihnen finden auf den angespannten Wohnungsmärkten keine eigene Wohnung. Andere, die nach der Ankunft in Deutschland privat untergekommen waren – alleine oder bei Verwandten, Bekannten oder Gastfamilien – mussten inzwischen diese Wohnungen verlassen und in Flüchtlingsunterkünfte ziehen. In Bayern sind rund 31.500 Geflüchtete aus der Ukraine in staatlichen Unterkünften untergebracht. In Baden-Württemberg sind es rund 26.000 Personen. In Hamburg lebt mehr als die Hälfte aller registrierten Geflüchteten aus der Ukraine in Flüchtlingsunterkünften (rund 12.900 Personen). Thüringen schätzt, dass derzeit bis zu 80 Prozent der rund 27.000 Geflüchteten aus der Ukraine in öffentlichen Unterkünften untergebracht sind. Quelle
4. Welche Länder haben die Aufnahme von Flüchtlingen vorübergehend gestoppt?
Berlin und Hamburg haben bereits im März sehr viele Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Seitdem werden Geflüchtete, die sich dort anmelden, in der Regel auf die anderen Bundesländer verteilt. Die Verteilung erfolgt generell nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. Die Länder verteilen die Geflüchteten wiederum auf Kommunen und Landkreise. Für Geflüchtete aus der Ukraine gibt es seit Juni 2022 neben dem Erstverteilsystem für Asylsuchende (EASY) das Erfassungs- und Verteilsystem "FREE".
Inzwischen melden etliche Bundesländer auf Anfrage, dass der Anteil von Geflüchteten, die sie aufgenommen haben, deutlich über der vom Königsteiner Schlüssel vorgesehenen Quote liege. Fünf Flächenländer (Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen) teilten dem MEDIENDIENST mit, dass sie vorübergehend die Aufnahme von Geflüchteten aus anderen Ländern eingestellt hätten. Bayern nimmt im Prinzip nur ukrainische Geflüchtete auf, die einen "Bezug zum Land" haben. Es gebe vereinzelt Ausnahmen – etwa zur Familienzusammenführung.
5. Wie ist die Situation in den Kommunen?
Aufgrund mangelnder Aufnahmekapazitäten haben mehrere Kommunen und Landkreise schon seit April temporäre Aufnahmesperren eingeführt. Dazu zählen unter anderem Städte wie Bielefeld, Hannover, Braunschweig, Göttingen, Chemnitz, Dresden und Leipzig, aber auch Kleinstädte wie Harburg bei Hamburg und Bargteheide. Das habe die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine vielerorts erschwert, sagt Georgia Homann, Projektleiterin bei "#Unterkunft Ukraine". Die Initiative unterstützt Gastfamilien, die Kriegsflüchtlingen eine Unterkunft anbieten möchten. "Wir haben wiederholt Situationen erlebt, in denen Geflüchtete eine Bleibe gefunden hatten – bis die Kommune mitteilte, dass sie finanziell nicht in der Lage ist, weitere Flüchtlinge aufzunehmen." Es fehle ein Überblick darüber, wo noch Wohnraum für Geflüchtete vorhanden ist, sagt Homann.
6. Reicht es, mehr Unterkünfte einzurichten?
Nein. Neben den Schwierigkeiten bei der Unterbringung bedeuten mehr Flüchtlinge auch mehr Ausgaben – etwa für Sozialleistungen, heißt es aus den Bundesländern. Es müsse auch ausreichend Schul- und Kitaplätze für geflüchtete Kinder und Jugendliche geben. Das würde Länder und Kommunen unter erhöhten Stress setzen. Wenn man die Zahl der Leistungsberechtigten und Schüler*innen aus der Ukraine mit der Gesamtbevölkerung der Bundesländer vergleicht, fällt auf: Einige Bundesländer haben überdurchschnittlich viele Personen aufgenommen. Dazu zählen Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Hamburg.
7. Können Geflüchtete ihren Wohnort wechseln?
Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine können sich aufgrund der "Massenzustromrichtlinie" bis zu 90 Tage in Deutschland aufhalten, ohne sich an einem Wohnort registrieren zu lassen. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn suchten die meisten von ihnen selbstständig eine Unterkunft und kamen zunächst privat unter. Laut einer Befragung des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften lebten im April 2022 gerade mal sieben Prozent der Flüchtlinge aus der Ukraine in Flüchtlingsunterkünften. Nur diejenigen, die einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft benötigten, wurden nach dem EASY- beziehungsweise FREE-System (siehe oben) verteilt.
Inzwischen ist es für sie schwieriger geworden, ihren Wohnort zu wechseln. Für Geflüchtete, die einen "vorübergehenden Schutz" nach §24 AufenthG haben, gilt eine "Wohnsitzauflage". Das heißt: Sie müssen im Bundesland wohnen, in dem sie registriert wurden. Das Bundesland kann weitere Wohnort-Einschränkungen einführen. Sie können ihren Wohnort ändern, wenn sie zu einer*m Lebenspartner*in ziehen, einer Arbeit nachgehen, eine Ausbildung absolvieren – oder wenn das nötig ist, um einen Sprach- oder Integrationskurs zu besuchen.
Von Fabio Ghelli
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