Seit zehn Jahren werden in Deutschland Menschen mit "Migrationshintergrund" statistisch erfasst. Die Kategorie wurde eingeführt, weil allein die Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit nicht aussagekräftig erschien. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt oder mindestens einen Elternteil hat, bei dem das der Fall ist, hat einen "Migrationshintergrund".
Wissenschaftler und NGOs bemängeln, dass etwa Diskriminierung mit der Kategorie "Migrationshintergrund" nicht immer sichtbar gemacht werden kann. Ein Schwarzer Deutscher hat unter Umständen keinen Migrationshintergrund. Jemand mit einem weißen französischen Elternteil hingegen schon.
Wie erfassen andere europäische Staaten Einwanderer und ihre Nachkommen? Wo kann Deutschland von ihnen lernen? In ihrer EXPERTISE beantwortet die Soziologin Dr. Linda Supik diese Fragen für fünf europäische Länder: Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Polen und Schweden.
- Menschen, die selbst nach Frankreich eingewandert sind, werden von den dortigen Behörden als Einwanderer erfasst. In statistischen Stichproben können auch ihre Kinder identifiziert werden, aber keine weiteren Generationen.
- In Schweden werden sowohl Einwanderer als auch ihre Nachkommen ausgewiesen. Ein Kind mit einem schwedischen und einem ausländischen Elternteil wird jedoch nicht mehr als Einwandererkind erfasst.
- In den Niederlanden wird die Einwanderungsgeschichte bis zur dritten Generation registriert. Das Statistikbüro kennt für die "Herkunft" der Bürger zwei Kategorien: "autochthon" ("von hier") und "allochthon" ("von anderswo"). Als "allochthon" zählt auch, wer einen niederländischen und einen ausländischen Elternteil hat.
Interessant ist die Situation in Polen und Großbritannien – also in einem Land mit wenig Migranten und einem zweiten, das eine lange Einwanderungsgeschichte hat: In beiden Staaten zählt nur die eigene Einwanderungsgeschichte, nicht die der Eltern. Im Zensus entscheiden die Menschen selbst, zu welcher „ethnischen“ oder „nationalen Gruppe“ sie gehören. Dadurch wird die Zugehörigkeit nicht von einer Behörde festgelegt, sondern von den Befragten selbst. Jedem steht es frei, hier „polnisch“ beziehungsweise „britisch“ anzugeben.
Diese subjektive Selbstauskunft sieht die Soziologin Linda Supik als eine sinnvolle Alternative zur aktuellen Definition des Migrationshintergrunds. Denn so werde die Perspektive auf die Vielfalt in der Gesellschaft von Migration und Generationsstatus abgekoppelt. Insbesondere zur Bekämpfung von rassistischer Diskriminierung sei nämlich die Migrationserfahrung der Eltern nur bedingt aussagekräftig.
Von Jenny Lindner
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