In der Silvesternacht 2022-2023 sind vielerorts die Feierlichkeiten für das neue Jahr in Krawalle ausgeartet: In mehreren deutschen Städten bildeten sich auf den Straßen große Gruppen von größtenteils jungen Männern, die durch ihr gewaltsames Verhalten auffielen. In vielen Fällen kam es zu Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte. In Berlin wurden dabei 41 Beamt*innen verletzt. In der Nacht kam es zu besonders vielen Einsätzen von Polizei und Rettungskräften: Allein in Berlin gab es laut Medienberichten mehr als 1.700 Feuerwehr-Einsätze – 700 mehr als im Vorjahr.
Etliche Medien und Politiker*innen wiesen in den vergangenen Tagen auf die Krawalle als Zeichen einer "gescheiterten Integration" hin, weil ein Teil der Festgenommenen keinen deutschen Pass hatte.
Dass die Krawalle der Silvesternacht 2022-2023 besonders gewaltsam waren, könnte unter anderem mit den Folgen der Covid-19-Pandemie zu tun haben: Kontaktbeschränkungen und die Schließung von Klubs und anderen Treffpunkten hätten vielerorts dazu geführt, dass sich Jugendliche öffentliche Räume verstärkt "aneignen", erklären Expert*innen.
Insgemsamt sei Gewaltkriminalität in den vergangenen 25 Jahren zurückgegangen, sagt der Kriminologe Christian Walburg – "gerade auch unter Jugendlichen, sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund". In den letzten Jahren sei sie wieder leicht angestiegen. "Das Niveau der Gewalt liegt aber deutlich unter dem von vor 25 Jahren."
Jugendliche überschreiten gerne Grenzen
Bei Ausschreitungen wie den Krawallen in der Silvesternacht werden öffentliche Räume zu Arenen, in denen stellvertretend von meist männlichen Jugendlichen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden – unter Gleichaltrigen oder gemeinsam gegen Repräsentanten staatlicher Institutionen und zivilgesellschaftlicher Organisationen, sagt der Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Rainer Kilb. "Jugendliche überschreiten dabei gerne Grenzen, um ein eigenes normatives Orientierungssystem zu finden", erklärt er. "Das Phänomen ist nicht neu."
Wenn viele Jugendliche zusammenkommen, können Konflikte schnell eskalieren – denn sie werden dann zu Events oder "Ereignissen" mit Anziehungskraft auf weitere Jugendliche. Das gilt nicht nur für junge Migrant*innen. Das sehe man oft auch im Fall von politischen Demonstrationen oder Sportevents, sagt Kilb. Im individuellen Entwicklungsprozess der Adoleszenz überlagern sich bei jungen Migrant*innen dabei häufig zwei Ebenen eines Orientierungsdilemmas, "nämlich einerseits adäquat in die Erwachsenenrolle hineinzuwachsen und andererseits eine zufriedenstellende Position in der Aufnahmegesellschaft zu erlangen und zum Mitglied dieser zu werden", so Kilb. Diese Prozesse gehen oftmals mit großer Verunsicherung einher.
Gravierende und wiederholte Strafffälligkeit sei sowohl bei Jugendlichen ohne als auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund selten, sagt der Kriminologe Walburg. Dass Letztere etwas häufiger mit Gewaltdelikten auffielen, habe vor allem mit der sozialen Lage zu tun: "Sie wachsen öfter in sozial benachteiligten Verhältnissen auf, die beruflichen Perspektiven sind schlechter. Teilweise haben sie selbst gravierende Gewalterfahrungen gemacht, hinzu kommen negative Erfahrungen in Deutschland, die in Frustration münden können.”
Denn im Umgang mit Polizei und anderen Einsatzkräften sind viele jungen Migrant*innen von vorgehenden Erfahrungen geprägt – und diese sind nicht immer positiv, sagt Daniela Hunold, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Empirische Polizeiforschung. Besonders junge Männer erleben mitunter Diskriminierung in öffentlichen Räumen, etwa durch Polizeikontrollen. "Wenn sie diese Räume bei solchen Ausschreitungen für sich beanspruchen, kann ihre Frust und soziale Unzufriedenheit in gewaltsamen Formen zum Ausdruck kommen", so Hunold.
Auffällig ist auch, dass auf andere ähnliche Ausschreitungen – etwa bei Fußballspielen – in der Regel keine aufgeregte politische Debatte folgt, sagt Hunold. Nur wenn Migrant*innen beteiligt seien, scheine Gruppengewalt eine gesellschaftspolitische Dimension zu erreichen: "Migrant*innen werden zur Projektionsfläche für tiefliegende Gesellschaftsprobleme", so Hunold. "Sie werden zu Sündenböcken." Das verstärke wiederum ihren Frust und soziale Unzufriedenheit.
Raum-Management, offene Kommunikation
Sind solche Krawalle also vermeidbar? Ja, sagt Ekrem Duzen, Forscher am Institut für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung (IKG). Mit anderen Kolleg*innen hat Duzen die Kölner Polizei nach den Ausschreitungen der Silvesternacht 2015-2016 beraten. Die Strategie, die die IKG-Forscher*innen gemeinsam mit den Beamt*innen entwickelt haben, beruhte auf zwei Konzepten: ein effizientes Raum-Management und eine offene Kommunikation.
In der folgenden Silvesternacht richtete die Polizei mehrere Checkpoints ein, um den Menschen eine klare Orientierung anzubieten. Die Menschen, die sich in der Kölner Innenstadt zum Feiern versammelt hatten, wurden nicht kontrolliert, sondern eher von den Beamt*innen angesprochen – unabhängig von ihrer Herkunft oder Aussehen. Die Maßnahmen hatten Erfolg. "Wir müssen dafür sorgen, dass eine bessere Kommunikation zwischen Beamt*innen und Einwohnern mit oder ohne Migrationshintergrund entsteht", sagt Duzen. "Wenn mich ein*e Polizist*in nur dann anspricht, wenn ich scheinbar etwas verbrochen habe, werde ich nie eine Vertrauensbeziehung zur Institution entwickeln."
Publikationen zum Thema
Bernd Holthusen, Sabrina Hoops, Diana Willems und Annalena Yngborn (2021), "'Jugendkrawalle' in der Pandemie – eine neue Dimension der Jugendgewalt?" in DJI, "Jugend ermöglichen – auch unter den Bedingungen des Pandemieschutzes", Seite 52
Carsten Dübbers (2020), "Die Kölner Silvesternächte 2015-2018. Ein Praxisbericht zum Umgang der Kölner Polizei mit Gewalt durch Gruppen"
Daniela Hunold und Jacques de Maillard (2019), "Kollektive Gewalt in der Stadt: die Bedeutung polizeilichen Handelns für Jugendproteste in Deutschland und Frankreich"
Stefan Kühl (2017), "Gewaltmassen. Zum Zusammenhang von Gruppen, Menschenmassen und Gewalt"
Talja Blokland und Vojin Šerbedžija (2018), "Gewohnt ist nicht normal". Jugendalltag in zwei Kreuzberger Kiezen
Von Fabio Ghelli, Jonas Lehnen, Andrea Pürckhauer und Sophie Thieme
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