Wenn Journalistinnen und Journalisten über eine Straftat berichten, stehen sie häufig vor einem Dilemma: Sagen sie, woher die mutmaßlichen Täterinnen oder Täter kommen, laufen sie Gefahr, Vorurteile gegenüber Minderheiten zu schüren. Sagen sie es nicht, wird schnell der Vorwurf laut, sie würden vermeintlich wichtige Informationen "verschweigen".
Seit 2017 steht dazu im "Pressekodex": Medien sollen die Herkunft nennen, wenn es "ein begründetes öffentliches Interesse" gibt. Vorher war von einem "begründbaren Sachbezug" die Rede. Der Deutsche Presserat hatte den Passus 2017 geändert – auch wegen der Debatten nach der Kölner Silvesternacht. Forschende und Redaktionen kritisieren jedoch, dass die neue Formulierung zu schwammig und daher wenig hilfreich sei.
Der MEDIENDIENST hat zu einem Pressegespräch in Köln eingeladen, um mit Fachleuten zu diskutieren: Wann sollten Medien die Herkunft von Tatverdächtigen nennen? Und welche Kriterien gibt es, die bei der Entscheidung helfen können?
Tipps von Expertinnen und Experten
Prof. Dr. HANS-BERND BROSIUS ist Kommunikationswissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2016 hat er in einer Studie untersucht, welche Auswirkungen die Kölner Silvesternacht auf die Kriminalitäts-Berichterstattung hatte. Das Ergebnis: Nach der Silvesternacht haben Medien die Herkunft von Tatverdächtigen deutlich häufiger genannt als vorher. Der Forscher spricht sich dafür aus, die Herkunft im Zweifelsfall zu erwähnen:
"Medien verspielen ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie die Herkunft von Tatverdächtigen nicht nennen. Denn die Herkunft ist ohnehin oft schon bekannt – sei es über Facebook und Twitter oder die Pressestellen der Polizei. Und es gibt viele Menschen, die darüber informiert werden wollen. Man muss die Herkunft mutmaßlicher Täter ja nicht unbedingt in die Überschrift packen, aber in den Text gehört sie auf jeden Fall. Das sollte aber für alle Tatverdächtigen gelten, also auch für deutsche."
SHEILA MYSOREKAR ist Journalistin und Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Sie setzt sich für mehr Vielfalt und gegen Rassismus in der Berichterstattung ein – und empfiehlt Medien, bei der Herkunftsnennung zurückhaltend zu sein:
"Das Problem ist, dass Medien die Herkunft oft nur bei ausländischen Tatverdächtigen erwähnen. Kein Journalist würde schreiben 'deutscher christlicher Pädophiler', aber viele schreiben 'polnischer Autodieb'. Das schürt Vorurteile. Wir empfehlen daher: In Berichten über Bagatelldelikte wie Taschendiebstahl sollte nichts zur Herkunft stehen, weil sie für die Tat irrelevant ist. Anders ist es bei schweren Straftaten: Über sie wird detaillierter berichtet und es lässt sich oft nicht vermeiden, auch die Herkunft von Tatverdächtigen zu nennen."
TORSTEN BEERMANN ist Redakteur und Reporter beim WDR. Er war Teil einer Arbeitsgruppe, die für den WDR Leitlinien zum Thema Herkunftsnennung verfasst hat. Beim Pressegespräch stellte er Auszüge daraus vor:
"Fragen, die wir uns stellen, sind beispielsweise: Ist die Herkunft des Tatverdächtigen relevant, um die Tat zu verstehen? Und würden wir die Herkunft auch nennen, wenn der Täter Norweger statt Syrer wäre? Beantworten wir beides mit nein, erwähnen wir die Herkunft in der Regel nicht. Außerdem sollte die Herkunft nie alleiniger Grund für eine Berichterstattung sein. Und wenn andere Medien oder Polizeipressestellen die Herkunft nennen, heißt das nicht, dass wir das auch tun. Es gibt aber Fälle, in denen es durchaus gute Gründe gibt, die Herkunft zu erwähnen: etwa bei spektakulären Straftaten wie dem Anschlag auf den BVB-Bus 2017. Hier hatte das Publikum ein berechtigtes Interesse daran, mehr über die Biografie des Täters zu erfahren. Egal, wie wir uns entscheiden: Wir wollen unserem Publikum gegenüber transparent machen, warum wir uns für oder gegen eine Nennung entschieden haben."
Wichtige Quellen
Pressekodex, Richtlinie 12.1 / Link
Praxis-Leitsätze zur Richtlinie 12.1 des Pressekodex' / pdf
Pressemitteilung der Neuen deutschen Medienmacher*innen / Link
Leitlinien des WDR / Link
Studie zur Kriminalitäts-Berichterstattung nach der Kölner Silvesternacht (Brosius/Arendt/Hauck) / Link
Von Jennifer Pross
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