Beim strukturellen Rassismus geht es nicht um eine Interaktion zwischen zwei Menschen, sondern um rassistische Strukturen und Entscheidungsabläufe. Es handelt sich also um Routinen, die so ausgestaltet sind, dass überdurchschnittlich und regelmäßig Schwarze Menschen und PoC benachteiligt werden. Solche Routinen gibt es zum Beispiel im Schulsystem, etwa wenn es um die Versetzung von Schüler*innen geht.
Da struktureller Rassismus in Routinen und Abläufen angelegt ist, ist die Benachteiligung – anders als bei einzelnen rassistischen Äußerungen – oft schwer zu erkennen. Die einzelne Person entscheidet sich nicht notwendigerweise bewusst dafür, eine Gruppe zu benachteiligen, sondern die Strukturen einer Institution – wie Schule oder Polizei – führen dazu. Was bedeutet das konkret? Wir haben Fachleute gefragt.
Beispiel Schule
In der Schule äußert sich strukturelle Benachteiligung der Bildungsforscherin Mechtild Gomolla zufolge vor allem im Umgang mit unterschiedlichen Sprachniveaus. Viele Kinder und Jugendliche mit anderen Erstsprachen als Deutsch erhielten nicht die benötigte Unterstützung, um gleichberechtigt am Unterricht teilzuhaben. Auch in der Notengebung lassen sich laut Gomolla benachteiligende Tendenzen erkennen: „Wenn Lehrer*innen Noten vergeben, richten sie sich oft nach impliziten Normalitätserwartungen und eingespielten schulischen Routinen. Diese Routinen sind nach Kindern ausgerichtet, die mit Deutsch als Erstsprache aufwachsen. Schüler*innen, deren Erstsprach nicht Deutsch ist, werden daher in allen Fächern – und nicht nur in Deutsch – schlechter bewertet als sie eigentlich sind."
Ein anderes strukturelles Problem ist laut Bildungsforscher Karim Fereidooni, dass meist schon nach der vierten Klasse über den weiteren Bildungsweg entschieden werde. Kinder, die erst im Kindergarten Deutsch lernen, brauchen laut Fereidooni einige Zeit, um sprachlich aufzuholen. Das würden die meisten auch schaffen – eigentlich: „Denn oft kommt es gar nicht dazu, dass sie Abitur machen können, weil eben schon nach der vierten Klasse selektiert wird. Zu diesem Zeitpunkt sind sie aber noch nicht so weit mit der Sprache – und bekommen dann keine Gymnasialempfehlung", so Fereidooni. Die Folgen seien weitreichend: Schlechteres Abschlusszeugnis, niedrigerer Bildungsabschluss, geringere Erwerbsmöglichkeiten.
Teil des Problems sind auch die Schulbücher. Die gingen oft von einer homogenen weiß-christlich-deutschen Schüler*innenschaft aus, sagt die Bildungsforscherin Juliane Karakayali: „Dort werden zum Beispiel Aufgaben gestellt, in denen sich die Schüler*innen mit dem Islam als fremder, problematischer Religion beschäftigen sollen. Muslimische Schülerinnen und Schüler werden dadurch schlicht ausgegrenzt." Laut Karakayali sind zahlreiche Bildungsmaterialien von ausgrenzenden und rassistischen Narrativen geprägt. Auch das sei struktureller Rassismus, denn: Hier gehe es nicht um einzelne Äußerungen von Schüler*innen oder Lehrkräften, sondern um die Rahmenbedingungen, die zur Ausgrenzung führen.
Beispiel Wissenschaft
Struktureller Rassismus sei auch in der Wissenschaft verbreitet, sagt die Postkoloniale Theoretikerin María do Mar Castro Varela. So sei es zum Beispiel symptomatisch, dass außereuropäische Wissenschaftler*innen und ihre Schriften kaum Eingang in die Curricula und Lehrbücher finden: „Ihre Erkenntnisse werden entweder ignoriert, oder nicht ernst genommen. Das führt etwa dazu, dass eine durchschnittliche Studentin keinen einzigen Namen, keine einzige Schrift einer afrikanischen Philosophin nennen kann. Das prägt unser Denken“, so Castro Varela.
Beispiel Gesundheitswesen
Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland sind gesundheitlich schlechter versorgt als Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. Das liege an der Struktur des Gesundheitswesens, sagen Fachleute. So zeigen Studien, dass zugewanderte Menschen mit Einwanderungsgeschichte schlechter über ihre gesundheitlichen Ansprüche informiert werden. Auch ist laut Gesundheitsforscherin Aleksandra Lewicki problematisch, dass es fast keine Dolmetscher*innen in den Praxen gibt: „Ärzte und Ärztinnen befürchten, ihrer Aufgabe nicht gut nachkommen zu können, und Patienten und Patientinnen sind verunsichert oder fühlen sich nicht ernst genommen“, so Lewicki. Dies führe zu häufigeren Arztwechseln und Fehldiagnosen.
Beispiel polizeiliche Kontrollen
Die Polizei darf Menschen nicht anlasslos wegen ihrer Hautfarbe, Haarfarbe oder anderer äußerer Merkmale kontrollieren. Dieses sogenannte Racial Profiling ist in Deutschland verboten. Dennoch gehört für viele Schwarze Menschen in Deutschland Racial Profiling zum Alltag: Eine Studie der EU-Grundrechteagentur im Jahr 2017 zeigte, dass 14 Prozent der Schwarzen Menschen in Deutschland in den vorangegangenen fünf Jahren Racial Profiling erlebt haben. Expert*innen zufolge ist das nicht nur auf Vorurteile einzelner Beamt*innen zurückzuführen. Wahrscheinlich begünstigen auch Strukturen in der Polizei das Racial Profiling. Unter anderem deshalb sprechen sich derzeit viele Wissenschaftler*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene für eine Studie zu Racial Profiling aus.
Was bedeutet das für den Einzelnen?
All das heiße nicht, dass Einzelpersonen keine Verantwortung trügen, betont Mechtild Gomolla: „Der Einzelne tritt in Strukturen ein, in denen rassistische Sichtweisen und Routinen institutionalisiert sind, die im Endeffekt zu Diskriminierung führen. Für diese Strukturen ist er oder sie zwar nicht verantwortlich – aber sehr wohl dafür, sie zu reflektieren und in der Konsequenz darauf zu handeln."
Von Donata Hasselmann
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.