Rund 352.000 Personen haben 2023 einen Asylantrag in Deutschland gestellt – von ihnen etwa 329.000 Personen zum ersten Mal. Das sind etwa 50 Prozent mehr Erstanträge als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr wurde wiederholt die Parallele zu den "Flüchtlingsjahren" 2015-2016 gezogen. Doch 2023 unterscheidet sich stark von vorherigen "Flüchtlingsjahren" wie etwa 2015-2016 oder zuletzt 2022, als rund eine Million Ukrainer*innen vor Russlands Angriffskrieg nach Deutschland flohen.
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Während in der Vergangenheit viele Geflüchtete aufgrund spezifischer Krisensituationen über bestimmte Routen nach Europa und nach Deutschland gelangten, waren 2023 Fluchtursachen und -routen komplexer. Was sind die wichtigsten Lehren aus dem vergangenen Jahr? Eine Übersicht.
1. Fluchtmigration ist ein globales Phänomen
Weltweit ist die Zahl der Personen, die aufgrund von humanitärer Not oder Verfolgung flüchten mussten, erneut stark gestiegen. Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR waren es zum Jahresende 2023 rund 114 Millionen Personen – 5,6 Millionen mehr als Ende 2022. Darunter sind auch viele Binnenvertriebene (internally displaced people). "Flüchtlinge" nach der Definition vom UNHCR und Asylbewerber*innen waren knapp 36 Millionen Menschen – etwa 600.000 mehr als im Vorjahr.
Ein wichtiger Grund für den Anstieg der Flüchtlingszahlen liege in den zahlreichen Konflikten und Krisenherden, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen Teilen der Welt entstanden seien, sagt Roberto Forin, Leiter von Mixed Migration Centre (MMC) Europe in Genf: "Die Situation in vielen Herkunfts- und Transitländern ist kritisch geworden: Allein in Westafrika hat es neun Putsche gegeben. In Ostafrika gab es zwei Bürgerkriege – in Äthiopien und im Sudan. Krieg im Jemen, Syrien und in der Ukraine. Im Nahen Osten eskaliert die humanitäre Krise."
Die meisten Geflüchteten und Vertriebenen (forcibly displaced people) würden dennoch im eigenen Land bleiben oder in Nachbarländer fliehen, sagt Forin. Ein Beispiel: Von den etwa 7,6 Millionen Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr vor dem Bürgerkrieg im Sudan fliehen mussten, sind etwa sechs Millionen "Binnenvertriebene" und etwa 1,4 Millionen Menschen haben in Nachbarländern Zuflucht gesucht – vor allem im Tschad und Ägypten.
2. Fluchtrouten sind komplexer geworden
Auch in Europa ist die Zahl der Asylbewerber*innen 2023 stark gestiegen: Im Oktober zählte die Asylagentur der Europäischen Union EUAA rund 937.000 Asylanträge in der EU – und damit fast so viele wie im gesamten Vorjahr. Höchstwahrscheinlich wird die Zahl der Asylanträge für das gesamte Jahr deutlich über der Millionen-Marke liegen.
Auf fast allen Flucht- und Migrationsrouten, die in die EU führen, ist die Zahl der Ankünfte gestiegen. Rund 157.000 Personen haben Italien erreicht – 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten von ihnen kamen aus Guinea, Tunesien und der Elfenbeinküste. In Spanien sind etwa 57.500 Migrant*innen und Geflüchtete angekommen. 70 Prozent von ihnen gelangten aus Westafrika zu den Kanarischen Inseln über die gefährliche West-Atlantik-Route. In Griechenland waren es etwa 48.600 Personen (etwa 2,6 Mal mehr Ankünfte als 2022), vor allem aus Syrien, Palästina und Afghanistan.
Auf der sogenannten Westbalkan-Route ist die Zahl der Ankünfte relativ konstant geblieben: Im Drehkreuz-Land der Region, Serbien, wurden bis November rund 101.100 Ankünfte gezählt (10 Prozent weniger als im Vorjahr). Hier werden Migrant*innen und Geflüchtete mehrmals erfasst, weil sie in der Regel mehrere Male versuchen, über verschiedenen Grenzen in die EU zu gelangen. Gestiegen ist die Zahl der versuchten (und erfolgten) Grenzübertritte in Bulgarien, der Slowakei und in Polen.
3. Es gibt keine einheitliche Geflüchteten-Gruppe
Die Daten für Europa zeigen: Es lässt sich keine Haupt-Gruppe oder -Migrationsroute erkennen – anders als in den Jahren 2015/2016, als viele Menschen aus Syrien flohen oder 2022 aus der Ukraine. Im Jahr 2023 kommen Geflüchtete und Migrant*innen aus vielen verschiedenen Ländern und folgen unterschiedlichen Routen, zwischen denen sie oftmals wechseln müssen, um voranzukommen: "Wir haben es mit Migrant*innen und Geflüchteten aus mehr als 100 Ländern zu tun. Das stellt nationale Behörden vor eine riesige Herausforderung für die Aufnahme und Registrierung", sagt Laura Bartolini von der Internationalen Organisation für Migration (IOM).
Es gebe eine Vielzahl von Geflüchteten und Migrant*innen, die sich in einer Art Umlaufbahn um die Außengrenzen der EU bewegten, so Bartolini. Sie könnten auch Monate oder Jahre in einem Transitstaat wie etwa Libyen oder der Türkei bleiben, bis eine neue Krise sie dazu zwinge, weiterzureisen.
Das sei auch eine Folge der Grenzpolitik der Europäischen Union, sagt MMC-Analyst Roberto Forin: Grenzzäune, systematische Zurückweisungen sowie die Kooperation der EU-Staaten mit einigen Drittstaaten (wie etwa Libyen, Marokko, Tunesien und der Türkei) bei Grenzkontrollen waren dafür gedacht, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Stattdessen würden sie Migrant*innen und Geflüchtete auf längere und gefährlichere Routen zwingen, um nach Europa zu gelangen. Die Folge: Die Zahl der Toten und Vermissten ist 2023 erneut stark gestiegen – um mehr als 60 Prozent auf 559 Fälle auf der "Kanarischen Route" und um 76 Prozent auf knapp 2.500 dokumentierte Fälle im zentralen Mittelmeer.
"Die bisherigen Verschärfungen in der Migration- und Asylpolitik der Europäischen Union haben nicht dazu geführt, dass die Zahl der Ankünfte zurückgeht", sagt Forin. "Es ist nicht zu erwarten, dass sich durch weitere Verschärfungen im Zusammenhang mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Situation ändern wird."
4. Es werden Alternativen zu Fluchtmigration gebraucht
Deutschland war auch 2023 das europäische Land, in dem die meisten Asylanträge gestellt wurden. Eingereist sind die meisten Schutzsuchenden über Österreich und Polen. Während bis August die meisten Migrant*innen und Geflüchtete, die nach Polen einreisten, über Belarus kamen, reisen sie inzwischen auch über andere Länder wie etwa die Slowakei.
Wie seit fast zehn Jahren kommt die größte Gruppe der Asylbewerber*innen aus Syrien – sie machen etwa ein Drittel aller Antragstellenden aus. Auf dem zweiten Platz ist zum ersten Mal die Türkei mit rund 62.600 Asylbewerber*innen. Dabei handelt es sich mehrheitlich um Kurd*innen aus der Türkei.
"Der Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Türkei ist ein neues Phänomen", sagt Caner Aver von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung. "Zwar stiegen die Zahlen schon nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 an, doch besonders nach dem Wahlsieg von Präsident Erdoğan haben viele Kurd*innen, Oppositionelle und andere Dissident*innen wie etwa Anhänger*innen der 'Gülen-Bewegung' beschlossen, das Land zu verlassen. Auch viele Personen, die von der jüngsten Wirtschaftskrise stark getroffen wurden, haben sich auf den Weg gemacht." Sie würden in vielen Fällen zunächst nach Serbien fliegen, wo türkische Staatsbürger*innen ohne Visum einreisen können. Von dort würden sie dann Deutschland erreichen.
Da lediglich 13 Prozent von ihnen Schutz in Deutschland bekamen, sei aber zu erwarten, dass die Zahl der Asylbewerber*innen aus der Türkei bald zurückgehen wird, so Aver: "Mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz werden viele junge Türk*innen eher die Möglichkeit nutzen, ein Arbeitsvisum zu beantragen, anstatt irregulär einzureisen, um Asyl zu beantragen."
Von Fabio Ghelli
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