In der politischen Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen hatte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) vor Kurzem erklärt, die Bundesrepublik könne nicht „das Sozialamt der Welt“ sein. Dahinter steckt die weit verbreitete Vermutung, dass viele Asylbewerber ihr Land mit dem Ziel verlassen, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren. Die implizite Folgerung: Wäre die Bundesrepublik nicht so großzügig gegenüber Flüchtlingen, würden sie nicht kommen.
Es ist sehr schwierig, die genauen Hintergründe zu erforschen, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Sozialwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von sogenannten Push- und Pull-Faktoren – also Umständen, die dazu führen, dass Menschen aus einem bestimmten Land ausreisen beziehungsweise in ein bestimmtes Land einwandern wollen. Der kürzlich veröffentlichte EU-Bericht der europäischen Polizei-Operation „Mos Maiorum“ (zu Deutsch: Sitte der Vorfahren) bietet dennoch einige Einblicke in die Reisepläne von Migranten, die in die EU einwandern.
Im Rahmen der Operation wurden zwischen dem 12. und dem 26. Oktober 2014 rund 19.200 Menschen festgenommen und registriert, die irregulär in die Europäische Union eingereist sind. Ziel der Operation sei, die Kapazitäten von Schleuser-Netzwerken zu schwächen. Die Polizisten haben Angaben über Herkunfts- und Zielland der Migranten erhoben. In etwa 12.000 Fällen haben die Behörden auch verfolgt, was nach der Festnahme passiert ist: 90 Prozent der Migranten haben einen Asylantrag gestellt.
Aus dem Bericht geht hervor: Mehr als die Hälfte der 19.200 Migranten, die im Rahmen der Operation befragt wurden, hatte bei der Einreise kein bestimmtes Ziel vor Augen. 9.500 Befragte gaben an, sie wollten lediglich „nach Europa“. Von den etwa 9.000, die wussten, wohin sie wollen, nannten rund ein Drittel Deutschland als Zielland.
Das Zielland wird erst nach Ankunft in der EU gewählt
Die Ergebnisse sind allerdings abhängig davon, ob die Polizisten irreguläre Einwanderer an den äußeren Grenzen oder innerhalb der EU festnehmen: An den EU-Grenzen hatten etwa drei Viertel aller Festgenommenen kein Ziel im Sinn. Innerhalb der EU wussten die meisten hingegen bereits, wohin sie wollten. Die häufigsten Ziele seien dabei Deutschland (rund 25 Prozent) und Großbritannien (15 Prozent) gewesen.
Dennoch bestätigt der Abschlussbericht der Operation „Mos Maiorum“, was bereits aus der vorherigen Operation „Perkunas“ hervorgegangen war: Push-Faktoren spielen in den aktuellen Flüchtlingsbewegungen eine deutlich stärkere Rolle als Pull-Faktoren. Für die meisten Flüchtlinge, die an die Grenzen der EU gelangen, geht es in erster Linie darum, von lebensbedrohlichen Umständen zu fliehen. Die Entscheidung, in welches europäische Land sie reisen, ergibt sich erst nach der Ankunft in der EU.
Der Bericht bietet auch Informationen zu Herkunftsländern und Flüchtlingsbewegungen innerhalb der EU. Dabei geht hervor: Die meisten irregulären Einwanderer wurden in Italien (rund 6.000), Deutschland (3.700) und Ungarn (3.000) festgenommen. Jeder vierte kommt aus Syrien (5.000 Menschen). Andere wichtige Herkunftsländer sind Afghanistan (1.500), Serbien (1.200) und Eritrea (1.100). In Deutschland wurden vor allem Syrer (980), Eritreer (400) und Afghanen (200) festgenommen.
Das bedeutet, dass es sich bei einem erheblichen Teil der Migranten um Menschen handelt, die aus akuten Krisengebieten kommen und gute Aussichten auf einen erfolgreichen Asylantrag haben.
Im Rahmen der Operation wurden außerdem rund 260 vermutliche Schlepper festgenommen. Etwa die Hälfte von ihnen sind EU-Bürger, 13 aus Deutschland.
Von Fabio Ghelli
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