MEDIENDIENST: Wie äußert sich Antisemitismus in der Schule?
Julia Bernstein: "Du Jude" als Schimpfwort ist in allen Schulformen sehr verbreitet. Davon haben die meisten der rund 220 Befragten in unserer Studie berichtet. Das zeigt sich an Sätzen wie "Mach doch keine Judenaktion!" oder "Sei doch nicht so jüdisch!". Es gibt eine ganze Reihe solcher Schimpfwörter, die das Judentum als Stigma benutzen. Lehrkräfte halten das hingegen oft für kindlichen Unfug. Sie bagatellisieren solche Äußerungen und unterbinden sie deshalb häufig nicht. Grundsätzlich zeigt sich: Lehrer erkennen Antisemitismus oft nicht.
Haben Sie weitere Formen des Antisemitismus in der Schule beobachtet?
Die Betroffenen haben sehr oft von Hakenkreuzen und Hitlergrüßen berichtet. Es gibt viele solcher Beispiele, die wir als Echo aus der Nazi-Zeit bezeichnen. So haben Befragte uns davon erzählt, dass Schüler aus Büroklammern Hakenkreuze zusammensetzen. Ein Interviewpartner hat ein sogenanntes Ausschwitz-Spiel geschildert. Da zeigt sich eine Enthemmung. Das Ausmaß hat mich überrascht. Für Juden ist das sehr verletzend. Wenn sie sich beschweren beziehungsweise fordern, dass Vorfälle klar als Antisemitismus benannt werden, hören sie aber oft, sie sollen nicht übertreiben, das sei nicht antisemitisch oder nazistisch gemeint.
Welche Rolle spielt israelbezogener Antisemitismus?
Er kommt sehr oft vor. Besonders stark äußert er sich, wenn Konflikte in Israel eskalieren. Jüdische Schüler werden zu Vertretern des Staates Israel gemacht, beschimpft oder ausgeschlossen. Diese Form ist bei allen gesellschaftlichen Gruppen verbreitet und sagt viel über die eigene kollektive Identität der Sprecher aus. Bei deutschen Menschen ohne Migrationshintergrund handelt es sich oft um den sogenannten sekundären Antisemitismus. Er zeigt sich etwa an einer Täter-Opfer-Umkehr. Damit wird die deutsche Identität geschichtlich entlastet. Antisemitisch eingestellte muslimische Jugendliche projizieren wiederum ihre eigenen Rassismuserfahrungen und ihre Identität als Minderheit in Deutschland auf diesen Konflikt. Und das, obwohl viele von ihnen nicht aus Israel oder Palästina kommen, sondern zum Beispiel aus Syrien oder dem Irak.
PROF. DR. JULIA BERNSTEIN ist Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences. Vergangene Woche erschien Ihr neues Buch "Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen." mit Online-Materialien bei der Verlagsgruppe Beltz. Foto: Frankfurt UAS
Wie gehen Lehrer damit um?
Lehrkräfte sind häufig überfordert und sind von diesen Stereotypen selbst nicht immer frei. Manche versuchen mit Filmen den Nahost-Konflikt zu thematisieren. Häufig entsteht im Anschluss eine heftige Diskussion, der sie professionell nicht gewachsen sind, da sie keine Nahostexperten sind. Manchmal kommt auch dann erst heraus, dass es jüdische Schüler in der Klasse gibt. Denn viele Schüler verheimlichen wegen der Gefahr des Antisemitismus, dass sie jüdisch sind. Lehrkräfte können oft auch nicht zwischen legitimer Kritik an bestimmten Akteuren in Israel und antisemitisch motivierter Kritik am Staat Israel insgesamt unterscheiden. Deshalb erkennen sie antisemitisch kodierte Aussagen oft nicht und lassen aggressive und pauschale Äußerungen gegen Israel als legitime Meinung zu. Diese Aggressivität kann sich dann aber konkret gegen jüdische Kinder in der Klasse richten, als verbale und manchmal auch als physische Gewalt. Sie werden als Vertreter des Staates Israel pauschal angegriffen.
Ist Antisemitismus in dieser Form an Schulen ein neues Phänomen?
Wir nehmen an, dass "Du Jude" seit ungefähr zehn Jahren ein so stark verbreitetes Schimpfwort in der Schule ist. Es gibt aber leider keine Forschung, die Hinweise auf ein konkretes Jahr oder die Gründe gibt, warum sich dieses Schimpfwort dermaßen auf Schulhöfen in Deutschland durchgesetzt hat. Dafür kann nicht eine einzelne Gruppe verantwortlich gemacht werden. Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das bei allen Gruppen zu finden ist. Einige Lehrer sind geneigt zu sagen, "das haben uns Muslime gebracht". Das hat eine Entlastungsfunktion und lenkt vom "hausgemachten" Antisemitismus in Deutschland ab. Antisemitismus in der Schule ist aber schon lange verbreitet. Das weiß ich aus Interviews mit jüdischen Menschen, die in den sechziger oder siebziger Jahren hier zur Schule gegangen sind. Schon damals zeigten sich "Gas-Sprüche" beziehungsweise Vernichtungsphantasien in der Schule. Diese Aggressivität gegenüber Juden hat es also immer gegeben. Das Ausmaß der Verbreitung und die Enttabuisierungsgründe müssen weiterhin gründlich erforscht werden.
Wie reagieren Schulen, wenn es zu körperlichen Angriffen auf jüdische Schüler kommt?
Während Schulen verbalen Antisemitismus häufig nicht erkennen oder bagatellisieren, müssen sie bei körperlichen Übergriffen handeln. Doch selbst dann sind Schulen oft nicht bereit, solche Vorfälle als Antisemitismus zu benennen und Konsequenzen zu ziehen. Die Angst, den Ruf der Schule zu ruinieren, ist groß. Dabei würden sie ihren Ruf gerade retten, wenn sie entsprechend adäquat auf die Vorfälle reagieren und gegen Antisemitismus vorgehen würden.
Was können Lehrer tun, um Antisemitismus entgegenzuwirken?
Lehrkräfte müssen bereits in der Anfangsphase reagieren und sagen: "Wir sind hier eine Gemeinschaft und wir nutzen keine verletzende Sprache". Sie tragen dafür Verantwortung. Man muss aber auch sagen: Sie haben nie einen professionellen Umgang mit dem Thema Antisemitismus gelernt. Es gibt aber bereits viel Material, das Lehrkräften hilft zu verstehen: Was ist Antisemitismus? Und wie erkennen wir antisemitisches Verhalten überhaupt? Zudem können Lehrer externe Experten etwa zum Nahost-Konflikt in den Unterricht einladen. Experten können auch erklären, was die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zum Beispiel zwischen Antisemitismus und anti-islamischem Rassismus oder Antiziganismus sind. Judentum und jüdische Identität mit positiven Inhalten zu füllen, statt sie nur auf Verfolgung zu reduzieren, wäre auch sehr wichtig. So können Schüler durch die persönlichen Kontakte mit Menschen und Annährung zu jüdischen kulturellen Inhalten sehen: Das sind normale Menschen genauso wie wir. Diese Normalität einzuführen, wäre sehr wichtig.
Welche Folgen haben antisemitische Erlebnisse für die Betroffenen?
Alltäglicher Antisemitismus hat weitgehende Auswirkungen auf die jüdische Identität von Menschen, wenn sie etwa das stigmatisierte Schimpfwort "Du Jude" verinnerlichen und dadurch das Gefühl bekommen, dass Jude zu sein etwas Schlechtes ist. Folgenreicher als die antisemitische Tat selbst ist, dass die Umgebung nicht reagiert, sondern schweigt, weil sie sich nicht betroffen fühlt. Das erschüttert das Grundvertrauen vieler Betroffener, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Das geht soweit, dass Juden sich nicht beschützt fühlen und über Auswanderung nachdenken. Viele machen sich Sorgen über die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland.
Interview: Lea Hoffmann
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