Diskussionen um einen „importierten“, „arabischen“ oder „muslimischen“ Antisemitismus sind nicht neu. Schon seit dem „langen Sommer der Migration“ 2015 kommt es immer wieder zu solchen Debatten. Darin findet sich zwar viel Polemik, aber wenig empirisches Wissen zu den Einstellungen derer, die neu nach Deutschland gekommen sind.
Empirische Ergebnisse
In einer Studie im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages haben wir im Jahr 2016 Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Afghanistan befragt. In 25 Interviews mit Männern und Frauen zwischen 16 und 53 Jahren sprachen wir über ihre Einstellungen zu Juden, zum Holocaust, zu Israel und dem Nahostkonflikt, aber auch zu Diskriminierungserfahrungen, Ängsten und Zukunftsvorstellungen. Von den 25 Interviewten bezeichneten sich 21 als Muslime.
Tatsächlich äußerte ein großer Teil der Befragten antijüdische Vorurteile. Etwa die Vorstellung, dass Juden reich oder mächtig, besonders schlau oder unmoralisch seien oder weltweite Kriege zu verantworten hätten. In diesen Vorstellungen gab es aber auch viele Widersprüche: So berichtete etwa die Hälfte der Interviewpartner von positiven Alltagskontakten mit Juden oder zeigte Empathie für ihre Verfolgungsgeschichte.
Über den Holocaust existierte bei den Befragten sehr wenig Wissen, es war fragmentarisch und teilweise historisch falsch. Fast alle hatten schon einmal von Hitler gehört, die wenigsten konnten die Person jedoch richtig einordnen. Einen Bezug zum Massenmord an den europäischen Juden stellten nur wenige her. Nach ihrer Ankunft in Deutschland wurden die Befragten mit dem Nationalsozialismus konfrontiert: Sie besuchten etwa das Berliner Holocaust-Mahnmal mit dem Sprachkurs, nahmen andere Denkmäler in der Stadt oder allgemeine Debatten wahr. Bei einigen führte dies zu einer aktiven Informationssuche, sie wollten das Ereignis und seine Relevanz für die deutsche Gesellschaft verstehen.
Dr. SINA ARNOLD ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität Berlin. Sina Arnold veröffentlichte zahlreiche Untersuchungen zum Thema Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft und in sozialen Bewegungen.
JANA KÖNIG war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Antisemitismus und Flucht" am BIM. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration und Rassismus, Antisemitismus in der postmigrantischen Gesellschaft sowie die Geschichte der Linken in Deutschland.
Fast alle geflüchteten Gesprächspartner standen Israel kritisch gegenüber. Diese Haltung reichte von einer allgemeinen Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern bis zu einer Fundamentalopposition, die Israel als einflussreichsten Staat der Welt und verantwortlich für alle Kriege erachtet. Für manche war der jüdische Staat allerdings „ein Land wie jedes andere“. Und mehrere berichteten davon, dass sich ihr Israelbild durch die eigene Kriegserfahrung verändert habe: Statt Israel abstrakt als „Ursprung allen Übels“ zu sehen, wurden aufgrund des Krieges konkrete Verursacher von Leiden ausgemacht – beispielsweise Assad, Russland oder der IS. Vereinzelt wurden aber auch unerwartet positive Erfahrungen gemacht, etwa mit israelischen Polizisten, die syrische Verwundete an den Grenzen pflegten.
Die Interviews haben auch gezeigt, dass es nicht nur antisemitische, sondern auch anti-antisemitische Haltungen gibt. So am Beispiel mehrerer afghanischer Interviewpartner, die als eine Minderheit im Iran gelebt haben. Dort wurden sie diskriminiert. Diese Erfahrung hat bei ihnen zu einer höheren Empathie auch gegenüber anderen Minderheiten geführt. Andere berichteten von einem alltäglichen und friedlichen Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden in den Herkunftsländern.
Die Empirie macht deutlich: Den Geflüchteten mit einer homogenen Herkunftskultur und Einstellung gibt es nicht. Die Mehrheit der Befragten vertrat kein geschlossenes antisemitisches Weltbild. Oft beschrieben die Interviewpartner ihr „Wissen“ über Juden als Teil eines Alltagswissens, das zum Beispiel durch Medien in den Herkunftsländern vermittelt wurde. Diese Diskurse aus den Herkunftsländern werden jedoch unterschiedlich interpretiert und verändert, auch durch die Fluchterfahrung.
Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft
Antisemitismus zu bekämpfen, ist dringend notwendig, denn er stellt eine reale Bedrohung für Juden in Deutschland dar. Einer aktuellen Umfrage unter rund fünfhundert Juden zufolge nehmen 78 Prozent eine Zunahme von Antisemitismus wahr. 83 Prozent befürchten einen weiteren Anstieg in den kommenden Jahren.
2017 wurden insgesamt 1.453 antisemitische Delikte erfasst, bei 1.377 davon geht die Polizei von rechts motivierten Tätern aus. Zudem zeigen die „Mitte-Studien“ der Universitäten Leipzig und Bielefeld regelmäßig, dass Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung konstant hoch bleibt. Rund ein Viertel der Bevölkerung stimmte 2016 etwa der Aussage zu: „Viele Juden versuchen aus der Vergangenheit des Dritten Reiches ihren Vorteil zu ziehen“. Und die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus – etwa der Aussage: „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ – liegt bei rund 40 Prozent.
Antisemitismus ist also ein gesamtgesellschaftliches Problem und muss als solches bekämpft werden. Der Fokus auf Geflüchtete läuft hingegen sowohl Gefahr einer rassistischen Pauschalisierung als auch der Externalisierung von Antisemitismus: Das hohe Potenzial in der Mehrheitsbevölkerung wird verharmlost, der Antisemitismus zu dem der Anderen gemacht.
Um in Politik und Pädagogik die richtigen Ansatzpunkte für eine Intervention zu finden, ist entscheidend zu verstehen, wie jemand zu seiner Haltung kommt. Dabei müssen auch regional oder ideologisch spezifische Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Antisemitismus wirksam entgegenzutreten ist aber eine Aufgabe für die ganze postmigrantische Gesellschaft.
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