Es war die vierte Reform des Abschiebe-Rechts in nur vier Jahren: Vor einem Jahr trat das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ in Kraft. Das Gesetz soll es erleichtern, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen.
- Ausreisepflichtige können auch ohne richterliche Anordnung festgenommen werden,
- Sie können in Haft landen, wenn sie nicht ausreichend bei der Beschaffung ihrer Identitätsdokumente mitwirken,
- Außerdem können sie bei Bedarf auch in normalen Gefängnissen inhaftiert werden. Dieser Punkt ist besonders kontrovers, denn nach geltendem EU-Recht dürfen ausreisepflichtige Menschen eigentlich nicht zusammen mit Häftlingen untergebracht werden.
Wie sieht die Situation ein Jahr später aus?
Eine Umfrage des MEDIENDIENSTES unter den zuständigen Landesministerien zeigt, dass die Bundesländer verstärkt von der Möglichkeit der Inhaftierung Gebrauch machen oder machen wollen. Die umstrittene Abschiebehaft wird ausgebaut.
- Vier Bundesländer (Baden-Württemberg, Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen) haben im vergangenen Jahr die Aufnahmekapazitäten ihrer Hafteinrichtungen ausgeweitet.
- Fünf weitere Länder (Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein) planen, demnächst neue Haftplätze zu schaffen.
- Je nach Bundesland variiert die Zahl der Menschen, die in Haft genommen wurden. In der Tendenz gab es mehr Inhaftierungen. Aber nicht überall gleichermaßen.
- Zwei Bundesländer (Sachsen-Anhalt und Hessen) haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ausreisepflichtige Menschen in normalen Hafteinrichtungen einzusperren – in Hessen allerdings nur in einem Fall.
Wie viele Ausreisepflichtige wurden inhaftiert?
Nicht alle Bundesländer verfügen über Abschiebe-Hafteinrichtungen. Viele Ausreisepflichtigen werden in anderen Ländern inhaftiert. Deshalb ist es schwierig, genau zu sagen, wie viele Ausreisepflichtigen bundesweit inhaftiert wurden – und wie viele von ihnen direkt aus der Haft abgeschoben wurden. Wenn man sich die Daten der Bundesländer anschaut, die eine umfassende Statistik führen, sieht man: Mehrere Bundesländer haben 2019 mehr Menschen in Abschiebehaft genommen als im Jahr zuvor.
In Bayern und Nordrhein-Westfalen – den zwei Ländern mit den höchsten Inhaftierungs-Zahlen – ist die Zahl der ausreisepflichtigen Menschen in Haft zwischen 2017 und 2019 konstant gestiegen. Andere Bundesländer wie etwa Berlin, Hessen und Sachsen haben in dieser Zeit angefangen, beziehungsweise wieder angefangen, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen.
"Die Abschiebehaft macht krank"
Kritiker*innen bemängeln, dass die Rückkehr-Politik in einer falsche Richtung gehe. Denn die Abschiebehaft gilt als teuer und inhuman. Schon vor sechs Jahren hat eine Studie des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN) im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge festgestellt, dass die Inhaftierung ausreisepflichtiger Personen teuer und nicht besonders effektiv sei. NGOs und Menschenrechtsorganisationen haben außerdem wiederholt betont, dass die Abschiebehaft schwerwiegende Auswirkungen auf das physische und psychische Wohlbefinden der ausreisepflichtigen Personen haben kann.
Die Zahlen für 2019 zeigen: Obwohl mehr Menschen in Abschiebehaft genommen wurden, ging die Zahl der Abschiebungen insgesamt zurück. Im Gesamtjahr 2019 – vor Ausbruch der Pandemie – hat es rund 22.100 Abschiebungen gegeben. Das sind 6,4 Prozent weniger als im Vorjahr. Kritiker*innen sagen deshalb, dass der Abschiebehaft ineffektiv ist.
Stefan Keßler, Referent für Politik und Recht beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst
"Die Abschiebehaft macht krank. Wenn wir Menschen in Abschiebe-Hafteinrichtungen beraten, beobachten wir immer wieder, wie schnell sie von Verzweiflung überkommen werden. Das liegt zum Großteil daran, dass sie das Gefühl haben, komplett von einem Apparat abhängig zu sein, den sie nicht verstehen. Viele von ihnen verstehen zum Beispiel gar nicht, warum sie in Haft sind, obwohl sie nichts Falsches getan haben. Wenn sich die Hafteinrichtungen außerdem in sehr abgelegenen Orten befinden, bekommmen die Insassen fast keinen Besuch und können nur mit großen Schwierigkeiten mit ihren Anwält*innen sprechen. Das verstärkt ihr Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Selbstverletzungen und Suizidversuche kommen leider viel zu oft vor."
Anna Suerhoff, Deutsches Institut für Menschenrechte
"Freiheitsentzug stellt einen besonders schweren Eingriff in die Grund- und Menschenrechte der Betroffenen dar. Das EU-Recht sowie internationale Menschenrechtsgremien legen eindeutig fest, dass bevor eine ausreisepflichtige Person in Haft genommen wird, alle alternativen Maßnahmen ausgeschöpft werden müssen. Die Haft zum Zweck der Abschiebung darf also nicht die Regel werden und muss in jedem Einzelfall individuell geprüft und begründet werden. Insbesondere in Zeiten einer weltweiten Pandemie sehen wir Abschiebungen und Abschiebehaft kritisch. Stattdessen sollte die Bundesregierung im Umgang mit ausreisepflichtigen Menschen eine doppelte Strategie führen: Einerseits die freiwillige Rückkehr fördern, andererseits die Integration und Aufenthaltssicherung Langzeit-Geduldeter ermöglichen."
Von Fabio Ghelli
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