Seit Oktober 2016 geht die Zahl der unerledigten Verfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zurück. Derzeit sind beim BAMF nur noch weniger als 100.000 Anträge anhängig. Jedoch hat die Zahl der Klagen gegen die Entscheidungen des Bundesamts stark zugenommen. Mehr als 200.000 neue Klagen sind allein im ersten Halbjahr 2017 bei den Verwaltungsgerichten eingegangen. Ende Juni 2017 waren an den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten mehr als 322.000 Verfahren im Bereich Asyl anhängig – fünf Mal so viele wie im vorherigen Jahr. Allein bei den Verwaltungsgerichten in München, Trier, Düsseldorf, Köln und Stuttgart lagen im Juli 2017 im Schnitt mehr als 10.000 anhängige Verfahren vor, in Berlin sogar mehr als 20.000.Quelle
Wer kann gegen seinen Asyl-Bescheid klagen?
Im Prinzip darf jeder Asylbewerber, der mit einem Beschluss des BAMF nicht einverstanden ist, dagegen klagen – dazu gehören abgelehnte Asylbewerber, sogenannte Dublin-Fälle sowie Asylbewerber, denen statt Asyl lediglich ein subsidiärer Schutz oder ein Abschiebeverbot gewährt wurde. Die Klage muss binnen zwei Wochen, nachdem ein Asylbewerber seinen Bescheid erhalten hat, erhoben werden – und wenn der Antragsteller aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ kommt, innerhalb einer Woche. Die Klage muss bei einem Verwaltungsgericht eingereicht werden.
Solange ihr Gerichtsverfahren läuft, dürfen Asylbewerber in der Regel nicht abgeschoben werden. Für Antragsteller, deren Anträge als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurden, und für sogenannte „Dublin-Fälle“ gilt das aber nicht. In diesen Fällen muss der Asylbewerber beim zuständigen Gericht einen Eilantrag stellen. Ein Einzelrichter entscheidet dann, ob die drohende Abschiebung aufgeschoben wird.Rechtliche Grundlagen
Warum ist die Zahl der Asyl-Klagen gestiegen?
Ein Grund für die vielen Asyl-Klagen ist zum einen die gestiegene Zahl der Asyl-Entscheidungen, die das BAMF in den letzten Jahren getroffen hat. Gab es 2015 etwa 283.000 Entscheidungen, stieg diese Zahl im Jahr 2016 auf fast 696.000. Gleichzeitig wuchs aber auch der Anteil der Bescheide, die vor Gericht angefochten wurden, überproportional an – von rund 25 Prozent im Jahr 2016 auf fast 40 Prozent zwischen Januar und Mai 2017.
Der Anstieg der Verfahren geht nach Auffassung der Gerichte zum Teil darauf zurück, dass syrische und irakische Staatsbürger in den vergangenen Monaten vermehrt gegen die Gewährung eines lediglich subsidiären Schutzes geklagt haben. Denn der Anteil der Asylbewerber, denen nur subsidiärer Schutz gewährt wurde, hat in den vergangenen Monaten stark zugenommen. Machte ihr Anteil unter den Asylbewerbern im Jahr 2015 nur 1,2 Prozent aus, lag er im ersten Halbjahr 2017 bei fast 40 Prozent. Subsidiär Schutzberechtigte ziehen vor allem deshalb vor Gericht, weil sie – anders als Flüchtlinge, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden – ihre Familienangehörigen nicht nachziehen lassen dürfen. Fast 70.000 derartige Verfahren waren im Juni 2017 noch anhängig.
Die Flüchtlingsorganisation "Pro Asyl" weist auf einen weiteren Aspekt hin: Weil die Asylverfahren stark beschleunigt wurden, stünden Anhörer und Entscheider unter enormem Zeitdruck. Sie würden die Sachverhalte deshalb nicht sorgfältig genug prüfen, vermutet Pro Asyl. Die Prüfungspflicht würde somit auf die Gerichte verlagert. Deshalb sei auch die Erfolgsquote bei den Klagen gegen die Asylentscheidungen des BAMF gestiegen, so die Flüchtlingsorganisation: Das BAMF habe schlicht mehr Fehlentscheidungen getroffen.
Asyl-Klagen sind jetzt häufiger erfolgreich
Tatsächlich lag die durchschnittliche Erfolgsquote bei Gerichtsentscheidungen im Bereich Asyl in den ersten fünf Monaten diesen Jahres bei knapp 26 Prozent. Das heißt, mehr als jeder vierten Klage wurde bisher stattgegeben. Die Erfolgsquote solcher Klagen ist damit deutlich gestiegen: 2016 lag sie noch bei 12 Prozent, 2015 bei lediglich 4,3 Prozent. Wenn man all die Fälle abzieht, bei denen die Klage zurückgenommen wurde, liegt die Erfolgsquote für das erste Halbjahr 2017 sogar bei rund 47 Prozent. Einige Klagen werden wegen geringer Erfolgsaussichten zurückgezogen. In anderen Fällen werden Klagen mehrerer Familienmitglieder zu einem Verfahren zusammengezogen.Quelle
Das BAMF führt die gestiegene Erfolgsquote vor Gericht darauf zurück, dass die Zahl der Klagen gegen die Gewährung lediglich subsidiären Schutzes zugenommen hat. Ein weiterer Faktor dafür könnte die Tatsache sein, dass die Zahl der Klagen von Antragstellern aus den Westbalkan-Staaten zurück gegangen sei, erklärt das BAMF auf Anfrage des MEDIENDIENSTES. Kläger aus dem West-Balkan machten bis vor einem Jahr noch einen bedeutenden Teil der Fälle aus – und das, obwohl sie sehr geringe Chancen auf Erfolg vor Gericht hatten. In den letzten zwei Jahren ist die Zahl der Asylbewerber aus dem westlichen Balkan deutlich gesunken, und damit auch die Zahl der Kläger.
Was tun die Gerichte, um den Bearbeitungsstau abzubauen?
Wie lange ein solches Gerichtsverfahren dauert, ist sehr unterschiedlich. Die Dauer hängt unter anderem davon ab, ob der Kläger oder das BAMF in Berufung gehen. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit lag im Juni 2017 bei 6,5 Monaten.Quelle
Weil die Klagen im Bereich Asyl stark zugenommen haben, geraten viele Gerichte derzeit an den Rand ihrer Kapazitäten. Auch andere Verfahren – etwa im Bereich Bau- oder Verkehrsrecht – dauern derzeit viel länger als gewöhnlich. Darum haben viele Gerichte ihr Personal verstärkt. Allein in Berlin etwa wurden sechs neue Kammern für Asylklagen eingerichtet, in München vier. In Köln waren Mitte 2017 etwa 80 Richter mit Asylverfahren beschäftigt, das sind vier mehr als noch im Jahr 2016. In Stuttgart waren zur gleichen Zeit sieben zusätzliche Richter im Asyl-Bereich im Einsatz, in Trier 12. Hinzu kommen mehrere Dutzend zusätzliche Mitarbeiter in der Verwaltung.
Das Personal aufzustocken ist in den Gerichten offenbar viel schwieriger als etwa beim BAMF, sagen Sprecher der Gerichte dem MEDIENDIENST: Zum einen versuchen die Gerichte, bei der Auswahl der neuen Richter weiterhin strenge Kriterien anzulegen. Richter auf Probe können zudem in den ersten sechs Monaten nicht als Einzelrichter über Asylklagen entscheiden. Zum anderen werden Richter unbefristet eingestellt. Das heißt: Sobald die „Klagewelle“ abebbt, könnte es an den Verwaltungsgerichten zu viele Richter geben. Um das zu vermeiden, werden in Köln derzeit Richter aus anderen Gerichtsbarkeiten – wie etwa den Zivil- und Sozialgerichten – zeitlich befristet abgeordnet, um bei der Bewältigung der hohen Anzahl von Asylverfahren zu helfen.
Die Gerichte beklagen außerdem Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem BAMF. Um das Problem zu lösen, hat das Bundesamt vor einigen Monaten eine Hotline eingerichtet. Richter können über diese Hotline Informationen zu den einzelnen Asylverfahren abfragen sowie Akten dazu einfordern.
Von Fabio Ghelli
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