Am 16. Oktober 2000 forderte der ehemalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz in einer Bundestagsrede, dass Migranten sich einer "gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen" sollten. Dies bekräftigte er am 25. Oktober in einem Artikel für die "Welt". Diese "Leitkultur" verstand Merz damals als Gegenmodell zur "multikulturellen Gesellschaft" und löste damit eine breite öffentliche Debatte aus.
Im selben Jahr wurde das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht reformiert. Die bis dahin geltende Verwaltungsvorschrift aus dem Jahr 1913 wurde grundlegend erneuert: Ursprünglich konnte man nur Deutscher werden, wenn man deutsche Vorfahren hatte. Nun konnten auch die Deutsche werden, die als Kind ausländischer Eltern in Deutschland geboren wurden – zumindest wenn ein Elternteil seit mehr als acht Jahren rechtmäßig hier lebte. Es bestimmte also nicht länger nur die Nationalität der Eltern die Staatsangehörigkeit, sondern auch der Geburtsort. Die Aufenthaltsdauer für die Einbürgerung wurde zudem von 15 auf 8 Jahre verkürzt.
Von den neuen Deutschen wurde Anpassung gefordert
Deutschsein wurde nun auch für Menschen zugänglich, deren Name nicht Deutsch klang oder deren Haar- oder Hautfarbe nicht dem entsprachen, was gemeinhin als deutsch galt. Von den neuen Deutschen wurde eine Annäherung an die in Deutschland „gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen" eingefordert. Was genau man sich darunter vorzustellen hat, wurde nicht formuliert, aber es wurde ein pauschaler Nachholbedarf suggeriert. Friedrich Merz hob in seinem Artikel die Werte des Grundgesetzes, die europäische Integration, die Demokratie und die Stellung der Frau als zentrale Elemente deutscher Kultur hervor.
Prof. Dr. NAIKA FOROUTAN ist Professorin für Integrations-forschung und Gesellschafts-politik an der Humboldt-Universität zu Berlin und stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Islam- und Muslimbilder in Deutschland.
Doch diese Bezüge können kaum als etwas spezifisch Deutsches bezeichnet werden, denn sie gelten weit darüber hinaus – und werden bis heute nicht von allen geteilt, deren Vorfahren schon immer Deutsche waren. Denken wir etwa an die erhöhte EU-Skepsis, demokratiefeindliche Positionen bei Pegida, ganz zu schweigen von den bisher 490 Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten, die vielfach Bürger aus der Region verübten, „die sich bisher nichts zu Schulden kommen ließen“, so Innenminister de Maizière.
Positionsgewinne rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen aber auch die zunehmenden Migrationsbewegungen führen jedoch dazu, die Frage "Wie wollen wir zusammenleben?" zu stellen – und selbst eine konstruktive Antwort zu formulieren. In einer Gesellschaft, in der jedes dritte Kind Migrationsbezüge hat, wird Herkunft als identitätsstiftendes Kriterium immer schwammiger. Die Rechtspopulisten fordern eine Rückkehr zur Homogenität, hin zu Werten, die "Europa", "den Islam" und Einwanderung als Bedrohung der kollektiven Identität verwerfen. Daraus entsteht ein Kampf gegen Gesellschaftsformen, die von Vielfalt geprägt sind. Die Frage lautet daher, ob heterogene Gesellschaften nicht doch ein übergeordnetes Selbst- und Leitbild brauchen, denn offenbar wird Vielfalt sonst als pures Nebeneinander empfunden. Doch reicht Verfassungspatriotismus aus, um heterogene Gesellschaften wie die deutsche politisch weiterzudenken?
Kein kulturelles, sondern ein politisches Leitbild
Ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft betrifft die gesamte Gesellschaft – nicht nur Migranten und Geflüchtete, sondern auch Menschen, die sich vom „neuen Deutschland“ überfordert fühlen. Auch sie müssen in diesen Transformationsprozess integriert werden. Die Frage, ob man sich auf ein übergeordnetes Interesse zur Gestaltung einer integrativen Gesellschaft einigen kann, ist heute, 15 Jahre nach der Leitkultur-Debatte, relevanter denn je. Allerdings sollte sie weniger über einen kulturellen, als vielmehr über einen politischen Rahmen geklärt werden – also ein Leitbild statt einer Leitkultur. Deutschland ist kulturell vielfältig. Dazu zählen bayerische, sächsische, großstädtische, ländliche oder vom Arbeitermilieu geprägte Kulturen ebenso wie evangelische, katholische und muslimische.
Ausgehend davon brauchen wir ein Leitbild, das eine politische Handlungslinie zum Umgang mit dieser Vielfalt definiert. Farhad Dilmaghani, der Vorsitzende von DeutschPlus, hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung vorgeschlagen, einen verfassungsrechtlichen Kompass für die Einwanderungsgesellschaft zu erarbeiten. Dieser fordert eine Verpflichtung der staatlichen Institutionen zur Pluralität. So wie Tierschutz und Umweltschutz als Staatsziele in die Verfassung aufgenommen wurden, sollte ein Artikel 20b im Grundgesetz aufgenommen werden, der besagt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration.“ Dies würde die gesamte Bevölkerung einschließen.
Es geht nicht um Umerziehung sondern um Akzeptanz der Realität
Als der Rat für Migration (RfM) im Januar 2015 eine Diskussion über ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft anregte, wurde das vielfach begrüßt. Auch die Junge Islam Konferenz (JIK) rief zur Einrichtung einer Enquete-Kommission „Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe“ auf. Zu den Erstunterzeichnern gehörten Vertreter von SPD, FDP, Grünen, Linken und CDU. An der Idee mitgewirkt haben Klaus J. Bade und die JIK-Leiterin Esra Kücük. Die Staatsministerin für Migrations- und Integrationsfragen, Aydan Özoguz (SPD), griff die Idee ebenso auf wie die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Kathrin Göring-Eckhardt. Auch der CDU-Generalsekretär Peter Tauber forderte ein „deutsches Leitbild für alle“.
In den USA und in Kanada haben Kommissionen bereits in den 1970er Jahren ein solches Bild erarbeitet. Auch in Deutschland sollte eine Leitbild-Kommission aus Parteien, Wissenschaftlern, Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgebern und Minderheitenvertretern nach einem Narrativ suchen, das unsere Gesellschaft in die Zukunft trägt. Und Fragen nachgehen wie: Welche Rolle spielen Religion, Schicht, Geschlecht oder ethnische Herkunft für unsere Wahrnehmung von Zugehörigkeit? Wie verändert die Vielfalt durch Migration unsere nationale Identität? Können wir Narrative finden, die Deutschland als Land der Vielfalt "neu" oder "wieder"-erzählen? Und wie können wir dieses neue deutsche Narrativ so einbetten, dass die Menschen sich damit identifizieren können und sich dabei nicht fremd vorkommen oder Angst haben?
In Kanada heißt das nationale Narrativ Unity in Diversity, Joachim Gauck hat einmal die "Einheit der Verschiedenen" als Ziel benannt. Wichtig ist, klar zu machen, dass es nicht um eine kulturelle Umerziehung geht, sondern um eine Akzeptanz der pluralen Realität und einen demokratischen Umgang damit. Hierfür braucht es einen politischen Leitfaden, der alle Menschen mitnimmt.
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