Das Coronavirus hat die Flüchtlingsunterkünfte erreicht: nach Angaben des Bundesinnenministeriums waren zum Stichtag 20. März 24 Asylbewerber*innen in sieben Bundesländern infiziert. Alle bekannten Fälle wurden in Ankunftszentren, Erstaufnahmeeinrichtungen sowie Gemeinschaftunterkünften gemeldet. Einige Einrichtungen wurden unter Quarantäne gestellt.
"In Gemeinschaftsunterkünften ist die Ansteckungsgefahr besonders hoch", sagt die Medizinerin Sabine Ruske vom Verein "Ärzte der Welt", die in einer Praxis für Infektiologie und Tropenmedizin in München arbeitet. "Die Bewohner leben dicht nebeneinander. Abstand zu bewahren ist fast unmöglich. Sie benutzen außerdem Gemeinschaftsräume, in denen die Gefahr besonders hoch ist, mit Krankheitserregern in Kontakt zu kommen."
Allein in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer leben derzeit mehr als 40.000 Menschen. Hinzu kommt eine noch größere Zahl von Geflüchteten, die in Gemeinschaftsunterkünften leben. Wie viele es genau sind, wird von den Bundesländern in der Regel nicht erfasst. Denn für die Anschlussunterbringung sind Landkreise und Kommunen zuständig. Während in Bayern beispielsweise etwa 6.600 Menschen in sogenannten Anker-Zentren leben, leben mehr als 58.000 Personen in Anschlussunterbringungen mit mehr als zehn Bewohner*innen.
Anhand der verfügbaren Daten zu Empfänger*innen von Asylbewerberleistungen lässt sich sagen: Mehr als die Hälfte aller Leistungsempfänger*innen lebte Ende 2018 in Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften.
Länder bereiten sich auf mehr Infektionen vor
Alle Bundesländer haben Maßnahmen ergriffen, um die Verbreitung des Virus in den Flüchtlingsheimen zu verhindern. Das zeigt eine Umfrage des MEDIENDIENSTES bei den zuständigen Ministerien. So werden alle neu ankommenden Asylbewerber*innen auf eine Covid-19-Infektion getestet. Schutzsuchende sind vom Einreiseverbot für Drittstaatsangehörige ausgenommen, das die Europäische Kommission am 16. März verkündet hat. In allen Bundesländern erhalten Bewohner*innen zudem in mehreren Sprachen Informationen darüber, wie man eine Ansteckung vorbeugen kann. Und in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz werden Neuankömmlinge getrennt von anderen Schutzsuchenden untergebracht.
Gleichzeitig stellen sich die Bundesländer auf mehr Infektionsfälle ein: In Mecklenburg-Vorpommern gibt es eine eigene Einrichtung für Geflüchtete, die unter Quarantäne stehen. In Sachsen und Schleswig-Holstein werden mehr Plätze geschaffen, um Bewohner*innen bei Bedarf zu isolieren. Und Baden-Württemberg versucht die Zahl der Bewohner*innen in Gemeinschaftsunterkünften zu senken, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Die Geflüchteten sollen nach Möglichkeit dezentral untergebracht werden.
"Diese Maßnahmen sind zu begrüßen", sagt Oliver Razum von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Seit mehreren Jahren forscht Razum zusammen mit seinem Kollegen Kayvan Bozorgmehr dazu, wie Geflüchtete in Deutschland medizinisch versorgt werden.
"Wichtig ist: Man muss die Bewohner ausreichend aufklären. Sie müssen verstehen, warum bestimmte Einschränkungen in diesem Moment notwendig sind", so Razum. Denn viele von ihnen seien während der Flucht in geschlossenen Lagern festgehalten worden. "Wenn sie Angst haben, wieder eingesperrt zu werden, verfallen sie möglicherweise in Panik. Dann kann es schnell zu Situationen kommen, wie wir sie vor kurzem in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl gesehen haben."
Noch wichtiger sei es aber, Geflüchtete so unterzubringen, dass es ihren Bedürfnissen und ihrem Wohlbefinden entspricht, sagt der Forscher. "Je mehr Asylbewerberinnen und Asylbewerber in großen Gemeinschaftsunterkünften und Anker-Zentren untergebracht werden, desto menschenunwürdiger und gesundheitsschädlicher werden die Lebensbedingungen." Geflüchtete – besonders Familien mit Kindern – sollten nach Auffassung der Forscher verstärkt in Wohnungen untergebracht werden.
Von Fabio Ghelli
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