Die CSU hat wiederholt darauf verwiesen, dass Frankreich Schutzsuchende an der Grenze zu Italien zurückweise. Ähnliches sei auch an deutschen Grenzen möglich. In Medienberichten hieß es, 87.000 Menschen seien im vergangenen Jahr an der italienisch-französischen Grenze zurückgewiesen worden.
Tatsächlich finden Zurückweisungen an den nördlichen Grenzen Italiens statt – doch offenbar nicht in dem Ausmaß, wie viele Medien berichtet haben. Nach offiziellen Angaben des italienischen Innenministeriums sind im vergangenen Jahr an der Grenze zwischen Italien und Frankreich rund 500 Menschen zurückgewiesen worden (riammissioni passive semplificate). Insgesamt habe es 16.000 Zurückweisungen an den Grenzen zu Frankreich, der Schweiz und Österreich gegeben. Im Jahr 2016 waren es mehr als 25.000. Etwa 90 Prozent der Zurückweisungen fanden an der Schweizer Grenze statt.
Die Zurückweisungen erfolgen im Rahmen von bilateralen Abkommen, die vor der Dublin-Verordnung geschlossen wurden. Demnach können alle Menschen abgewiesen werden, die versuchen, irregulär über die Grenze zu gelangen – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus und dem Grund ihrer Einreise. Da diese Abkommen älter sind als die Dublin-Verordnung, können Frankreich, die Schweiz und Österreich die sogenannte Zuständigkeitsprüfung umgehen. Geflüchtete, die die Polizei an der Grenze festnimmt, werden also ohne Weiteres nach Italien zurückgebracht.
Darf Deutschland Asylsuchende zurückweisen?
Prinzipiell gilt: „Ein Ausländer, der unerlaubt einreisen will, wird an der Grenze zurückgewiesen“ (AufenthG §15, Abs. 1). Doch nach geltendem deutschen und europäischen Recht hat jeder Asylsuchende in Deutschland Anspruch auf die individuelle Prüfung seines Antrags. Ohne diese Prüfung kann er nicht zurückgewiesen werden.
Wem im Herkunftsstaat schwere Gefahr oder Verfolgung droht, hat ein individuelles Recht auf Schutz vor Zurückweisung (non-refoulement). Das sieht insbesondere Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention vor. Auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt sich ein Schutz vor Zurückweisung, wenn Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Einige Juristen argumentieren: Nach dem deutschen Asylgesetz (AsylG §18 Abs. 2) könne einem Asylsuchenden die Einreise verweigert werden, wenn er aus einem "sicheren Drittstaat" oder einem sogenannten Dublin-Staat kommt.
Viele andere Rechtswissenschaftler haben jedoch darauf hingewiesen, dass Deutschland nicht nur an die nationale, sondern auch an die europäische Gesetzgebung gebunden ist. Letztere hätte vor nationalem Recht Vorrang. Das heißt: Im Zweifelsfall sei die europarechtliche Regelung anzuwenden beziehungsweise die nationale Regelung europarechtskonform auszulegen.
⇒ Auch Anträge von Asylsuchenden aus sicheren Herkunfts- und Drittstaaten sind inhaltlich zu prüfen. Die Bundesregierung kann zwar im Rahmen des europäischen Flüchtlingsschutzes "sichere Dritt- und Herkunftsstaaten" bestimmen. Dass ein Staat als "sicherer Herkunftsstaat" gilt, bedeutet aber nicht, dass man eine Person ohne weiteres an der Grenze abweisen kann. Zwar sind Schutzanträge von Personen aus sicheren Herkunftsstaaten grundsätzlich als „offensichtlich unbegründet“ abzulehnen. Ein Asylbewerber kann aber im Einzelfall deutlich machen, dass das entsprechende Land für ihn nicht sicher ist und ihm dort Verfolgung oder andere schwerwiegende Gefahren drohen.
⇒ Sobald ein Asylsuchender sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befindet, muss dieser Staat auch die Zuständigkeit nach der Dublin-Verordnung prüfen. Um den Staat zu ermitteln, der für einen Asylbewerber zuständig ist, müssen die Behörden laut Dublin-Verordnung zunächst den Schutzsuchenden anhören, eventuell seine Fingerabdrücke nehmen, sie mit der EURODAC-Datenbank abgleichen und ein "Übernahmeersuchen" an den zuständigen Staat schicken. Dieses Verfahren kann unter den aktuellen Bedingungen nicht an der Grenze durchgeführt werden. Das bedeutet, dass Menschen, die über Dublin-Staaten nach Deutschland kommen, nicht einfach an der Grenze abgewiesen werden können.
Was ist die Dublin-III-Verordnung?
Die Dublin-Verordnung regelt, welcher EU-Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Demnach ist in der Regel immer der erste Mitgliedstaat zuständig, über den die EU betreten wurde (Erststaatsprinzip). Unter anderem soll so verhindert werden, dass eine Person mehrere Asylanträge in verschiedenen EU-Ländern stellt. Außerdem regelt sie die Zusammenführung von Asylsuchenden mit Familienangehörigen, die sich bereits in der Europäischen Union befinden.
Die Kritik
Eine Studie des "Migration Policy Institute" aus dem Jahr 2015 offenbart Schwächen im Dublin-System: Das gesamte Asylverfahren bei "Dublin-Fällen" werde durch die aktuelle Regelung um etwa ein Jahr verzögert. Und nur rund ein Drittel der Flüchtlinge, die innerhalb der EU weiterreisen, werden ins Einreiseland zurückgeschickt.
Auch die Europäische Kommission ist mit dem aktuellen System unzufrieden: Schon im Mai 2015 beklagte sie in ihrer „Migrationsagenda“, dass die Verordnung keine Wirkung zeigt. Einen ersten Reformentwurf hat der "Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments" (LIBE) im September 2016 veröffentlicht.
Dieses Vorgehen ist sehr umstritten. Nach Auffassung des italienischen Vereins der "Rechtswissenschaftler im Bereich Immigration" (ASGI) verstößt diese Praxis gegen europäisches und Völkerrecht. "Asylsuchende werden nicht über ihre Rechte informiert und haben auch keinen Zugang zu Rechtsberatung", sagt ASGI-Sprecherin Anna Brambilla dem MEDIENDIENST. "Gruppen-Zurückweisungen", gegen die Asylsuchende keinen Einspruch erheben dürfen, würden gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. An der französischen Grenze sei es zudem wiederholt zu Menschenrechtsverletzungen gekommen: Im März dieses Jahres starb eine schwangere Frau, nachdem sie am Alpen-Grenzübergang von Bardonecchia zurückgewiesen wurde.
Brambilla zufolge werden Geflüchtete aufgegriffen und ohne ein Wort zurück über die Grenze gebracht. "Das geschieht auch im Fall von Minderjährigen oder besonders Schutzbedürftigen wie etwa Menschen mit Behinderung.“ Die Lage habe sich zudem im vergangenen Jahr deutlich zugespitzt: Die Schweizer Polizei würde derzeit das Grenzgebiet mit Aufklärungs-Drohnen überwachen. Die österreichische Polizei hält Menschen schon auf italienischen Boden an und übergibt sie dann der italienischen Polizei. An der italienisch-französischen Grenze gab es Razzien in Flüchtlingsunterkünften, um Asylsuchende vom Grenzgebiet zu vertreiben.
Aufgrund der strengen Kontrollen würde das Geschäft der Schleuser wieder blühen, die Menschen illegal in LKWs über die Grenze bringen, so Brambilla. Und mehrere tausend Menschen schaffen es trotz engmaschiger Kontrollen über die Grenze: 2016 bekam Italien etwa 65.000 "Dublin"-Übernahmeersuchen aus ganz Europa. Dabei handelt es sich um Menschen, die zuerst in Italien registriert wurden und später weiterreisten.
Aber nicht nur "Dublin-Fälle" werden an der Grenze zwischen Italien und Frankreich zurückgeschickt. Frankreich nutzt offenbar die "pushbacks", um Menschen loszuwerden, die sich irregulär im Landesinneren aufhalten: 2017 hat die französische Polizei laut Medienberichten etwa 50.000 Menschen einfach nach Italien zurückgeschoben. Dabei wird nicht geprüft, ob die Menschen tatsächlich über Italien eingereist waren.
Von Fabio Ghelli
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