MEDIENDIENST: In der Studie, die Sie und Dr. Elizabeta Jonuz von der Universität Köln geführt haben, untersuchen Sie Bildungsbiografien von erfolgreichen Frauen aus Roma- und Sinti-Familien. Wer sind die Frauen, die Sie interviewt haben?
Jane Schuch: Wir wollten möglichst verschiedene Biografien analysieren. Deshalb ist die Gruppe der Befragten sehr heterogen. Es gibt deutsche Staatsbürgerinnen aus Sinti-Familien, die seit mehreren Generationen in Deutschland leben, und es gibt Frauen mit ausländischem Pass, deren Eltern aus Flüchtlinge oder Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Unter ihnen sind Rechtsanwältinnen, Altenpflegerinnen, Studentinnen, Friseurinnen und Wissenschaftlerinnen.
Sie alle scheinen in der Schule ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben...
Alle Befragten haben gesagt, dass sie in der Schule zum ersten Mal als Romnja und Sintezza diskriminiert wurden. Das ging meist mit Hänseleien und Beschimpfungen einher. Bis sie in die Schule kamen, hatten viele von ihnen noch nie das Wort „Zigeuner“ gehört.
Welche Auswirkung hatte das auf ihr Leben?
Als die Befragten eingeschult wurden, betraten sie eine kalte, abweisende Welt, die sich grundsätzlich von der „warmen“, beschützenden Welt der Familie unterschied. Hinzu kamen rassistische Beschimpfungen und Vorwürfe. Man kann sich vorstellen, wie steil eine schulische Laufbahn unter diesen Bedingungen sein kann.
Dr. JANE SCHUCH ist wissen-schaftliche Mitarbeiterin im Institut für Erziehungs-wissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Vorstands-Mitglied der Hildegard Lagrenne Stiftung. Zusammen mit Dr. Elizabeta Jonuz (Universität zu Köln) hat sie die Untersuchung zum Bildungserfolg von Frauen aus Roma- und Sinti-Familien durchgeführt.
Was half den Frauen, trotzdem nicht aufzugeben?
Vor allem zwei Faktoren: die Familie und die Unterstützung von Lehrern oder anderen Personen in ihrem Umfeld, die an sie glaubten. Viele Frauen beklagen, dass wegen ihres familiären Hintergrunds in der Schule wenig von ihnen erwartet wurde. Doch sobald jemand ihre Bestrebungen unterstützte – ein sogenannter Gatekeeper – fingen sie an, an ihren Erfolg zu glauben.
Gibt es Unterschiede zwischen den Biografien der Frauen, die in Deutschland geboren sind, und derjenigen, die zugewandert sind?
Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Frauen mit einem prekären Aufenthaltsstatus deutlich mehr Schwierigkeiten haben, Schule oder Ausbildung erfolgreich zu gestalten. Das trifft auf die meisten Frauen aus Roma-Familien zu, die als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind. In der Regel wurde ihr Antrag abgelehnt, sie hielten sich dann als Geduldete oder "Illegale" in Deutschland auf. Man darf nicht vergessen, dass erst im vergangenen Jahr eine Gesetzesänderung eingeführt wurde, die es auch Geduldeten ermöglicht, eine Ausbildung zu machen.
Und trotzdem erreichten die Befragten einen Abschluss.
Eine Geschichte ist dabei besonders ergreifend: Eine Frau kam als Kind mit der Familie vom Balkan in die Bundesrepublik. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, die Familie lebte mehrere Jahre als Geduldete in Deutschland. In dieser Zeit wurde die Frau eingeschult. Als die Abschiebung vollzogen werden sollte, floh die Familie in die Illegalität. Dabei mussten Eltern und Kinder bei unterschiedlichen Verwandten unterkommen. Schließlich bekam die Familie Kirchenasyl. In diesem prekären Zustand besuchte das Mädchen eine Gesamtschule, anschließend ein Berufskolleg und wurde mit 20 ausgebildete Altenpflegerin. Mehr als drei Viertel ihrer Schulkarriere verbrachte sie dabei in der Illegalität. Dank dem persönlichen Engagement ihrer Lehrerinnen konnte sie einen Abschluss machen.
Was sollte man tun, um die gesellschaftliche Teilhabe von jungen Frauen aus Sinti- und Roma-Familien zu stärken?
In erster Linie muss Diskriminierung in den Schulen bekämpft werden. Lehrer, Eltern und Schulkinder müssen darüber aufgeklärt werden, dass es nicht in Ordnung ist, jemanden als „Zigeuner“ zu bezeichnen. Zweitens muss es Förderprogramme geben, die sich spezifisch an junge Frauen aus Roma- und Sinti-Familien richten. Die Nachfrage nach Förderprogrammen ist sehr groß. Das haben auch die Ausschreibungen für die Stipendien der Hildegard Lagrenne Stiftung gezeigt. Interessant ist dabei: Die meisten Bewerbungen kamen von jungen Frauen.
Gibt es nicht die Gefahr, dass eine Frau sich stigmatisiert fühlt, wenn sie durch ein Stipendium für Romnja und Sintezza gefördert wird?
Im Gegenteil. Unsere Studie hat gezeigt, dass gerade erfolgreiche Frauen ihre Zugehörigkeit zu diesen Minderheiten thematisieren und sich auch aktiv für die Gemeinschaft engagieren. Andererseits gibt es sicherlich auch viele Frauen, die erfolgreich sind und es dennoch nicht ansprechen – aus Angst vor Diskriminierung. Das ist sehr schade, denn für viele Mädchen aus Roma- und Sinti-Familien sind starke Vorbilder sehr wichtig.
Interview: Fabio Ghelli
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