Die Union und die SPD legten 2018 im Koalitionsvertrag fest, dass "Migrationsbewegungen nach Deutschland [...] zu begrenzen" seien, "damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt". Um dieses Ziel zu erreichen, versprachen sie effizientere und schnellere Asylverfahren, die in sogenannten "AnKER-Einrichtungen" durchzuführen seien. Von bisherigen Lagern sollten sich Anker-Zentren dadurch unterscheiden, dass alle am Asylverfahren beteiligten Behörden dort vertreten sind und Geflüchtete bis zum Abschluss des Verfahrens dort verweilen müssen. Abgelehnte Asylsuchende sollen bis zu ihrer Ausreise oder Abschiebung in Anker-Zentren bleiben. Lediglich Bayern, Sachsen und das Saarland betreiben offiziell Anker-Zentren.
Treibende Kraft hinter den Anker-Zentren ist Bayern. Dort waren, Stand Februar 2020, 6.654 Menschen in sieben Anker-Zentren und 21 Dependancen untergebracht. Und es zeigt sich: Schnellere Verfahren führen nicht unbedingt dazu, dass die Geflüchteten kürzer in den Lagern verweilen. Vor allem abgelehnte Asylsuchende müssen oft monate- und jahrelang dort wohnen, bis sie in eine Gemeinschaftsunterkunft verteilt werden, "freiwillig" ausreisen oder abgeschoben werden. Wohlfahrtsverbände, aktivistische und ehrenamtliche Gruppen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren, dass die Zentren eine Integration der Geflüchteten verhindern und diese isolieren. Denn viele haben kaum Möglichkeiten, einen Sprachkurs zu belegen oder zu arbeiten.
Was ist dran an der massiven Kritik? Wie ergeht es den Geflüchteten in den Anker-Zentren? Um das herauszufinden, habe ich zwischen Januar und April 2020 vier qualitative Interviews mit Menschen geführt, die in Anker-Zentren in Bayern untergebracht sind oder waren.
Dr. SIMON GOEBEL ist Kulturanthropologe am Zentrum Flucht und Migration der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Dort forscht er zur Unterbringung von Geflüchteten in Lagern und zu Meinungsbildung in digitalen Öffentlichkeiten mit Blick auf die Themen Migration und Digitalisierung.
Ihr Tagesablauf sei vom eintönigen Rhythmus der Essensausgaben strukturiert, berichten die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner. "Schlafen, aufwachen, essen, schlafen, aufwachen, essen - mehr nicht", beschreibt ein Befragter seinen Alltag. Wer nicht arbeiten oder einen Sprachkurs besuchen darf, kann nicht viel mehr tun als warten und hoffen. Warten auf die Entscheidung über den Asylantrag. Warten auf einen Transfer in eine andere Unterkunft. Hoffen, nicht abgeschoben zu werden oder arbeiten zu dürfen.
Einige Geflüchtete, die länger in Anker-Zentren leben, sind "Dublin-Fälle". Sie sollen in einen anderen EU-Mitgliedsstaat - oft ist das Italien - abgeschoben werden. Wenn Geflüchtete oder der andere EU-Mitgliedstaat nicht mitwirken, kann sich das Dublin-Verfahren in die Länge ziehen. "Die Polizei kann um drei Uhr kommen oder um fünf oder sechs Uhr, wenn Du schläfst," sagt einer. Die Geflüchteten befürchten, dass ihnen nach der Abschiebung die Obdachlosigkeit droht. Das versetzt sie in Angst, berichten die Betroffenen: "Das ist wie psychische Folter," sagt einer, der über eineinhalb Jahre in einem Anker-Zentrum wohnen musste. Abschiebungen werden teilweise unter massiver Polizeigewalt durchgesetzt. Es seien schon Schlagstöcke, Schilde, Hunde und Tränengas gegen Bewohnerinnen und Bewohner eingesetzt worden, um eine Person abzuschieben. Die ständige Angst führt zu massiven Schlafstörungen - davon berichten mir die Befragten. Einer sagt verzweifelt: "Auch wenn wir als Geflüchtete keine Rechte haben, müssen wir doch zumindest als Menschen das Recht haben, zu schlafen."
Mehrere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner berichten davon, dass sie die Anker-Zentren als Orte wahrnehmen, in denen sie keine Rechte haben. Das erleben sie unter anderem in der Art, wie Mitarbeitende der Behörden mit ihnen umgehen, etwa wenn sie um Hilfe bitten: "Im Anker-Zentrum sagen sie Dir: 'Hey, wir wollen nicht mit Dir reden, geh jetzt oder wir rufen die Security zu Dir' und dann kommt die Security und fängt an, die Leute zu belästigen."
Ein Gesprächspartner berichtet mir, dass wichtige Anliegen wie Krankheiten vom zuständigen Lager-Personal nicht ernst genommen werden: "Wenn wir krank sind, sagen sie uns 'Trink genug Wasser!'" Sogar gegenüber Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern äußern zwei der Befragten Misstrauen. Einer erzählt, dass eine Sozialarbeiterin die Polizei unterstützt hat, einen Bewohner aufzufinden, der abgeschoben werden sollte.
Manche hoffen auf einen baldigen Transfer in eine Gemeinschaftsunterkunft. Andere verharren in Apathie oder versuchen die Situation zu "ertragen", wie es ein Befragter ausdrückte, wieder andere werden depressiv. Trotz dieser Perspektivlosigkeit erzählen die Befragten von Strategien, ihre Lebensbedingungen zu verbessern: Ein Gesprächspartner berichtet, wie er mit anderen Geflüchteten Fußball-Turniere organisiert hat: "Einfach, damit die Leute nicht gelangweilt sind." Ein anderer erzählt davon, dass er mit anderen eine Vereinigung im Lager gegründet hat. Sie unterstützten sich gegenseitig in solidarischer Weise. Alle Mitglieder der Vereinigung mussten einen Euro pro Monat in eine gemeinsame Kasse einzahlen: "Wenn jemand Unterstützung braucht, zum Beispiel weil er ein Medikament nicht bezahlen kann, kann das Geld verwendet werden." Zudem machten sie es sich zur Aufgabe, im Lager "Frieden und Ordnung aufrechtzuerhalten, um Konfrontationen mit den Behörden zu vermeiden" sowie "die Leute über das Asylverfahren und die Situation in Deutschland zu sensibilisieren".
Die Befragten versuchten, durch Demonstrationen und andere Protestaktionen öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten. "Das einzige, was wir tun können, ist zu demonstrieren und den Behörden zu zeigen, dass die Weise, wie die Leute hier behandelt werden, schlecht ist", sagt ein Befragter.
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.