Hinweis: Dieser Text ist im Juli 2021 erstmals erschienen. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir ihn nun erneut.
Einwander*innen aus der ehemaligen Sowjetunion und ihre Nachfahren bilden mit rund 3,5 Millionen Menschen die größte Einwanderergruppe in Deutschland. Dennoch ist wenig über sie bekannt. Der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis hat die erste umfassende Studie zur Community, zu ihrer Teilhabe und ihren politischen Einstellungen vorgelegt. In einer Expertise für den MEDIENDIENST stellt er die wichtigsten Erkenntnisse vor.
Die vollständige Expertise können Sie hier herunterladen.
1. "Sie arbeiten viel, verdienen aber nicht unbedingt viel damit"
Spätaussiedler*innen und Kontingentflüchtlinge kamen in einem geregelten Aufnahmeverfahren nach Deutschland, Spätaussiedler*innen erhielten sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. Die sichere Bleibeperspektive wirkte sich Panagiotidis zufolge positiv auf ihre Teilhabe am Arbeitsmarkt aus. Ihre Erwerbslosenquote ist in den letzten Jahren nochmals deutlich gesunken, die Haushaltseinkommen gestiegen.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber: Oft tragen mehrere Personen, die jeweils wenig verdienen, zum Haushaltseinkommen bei. Postsowjetische Migrant*innen sind überdurchschnittlich häufig in prekären Jobs beschäftigt.
Gerade jüdische Kontingentflüchtlinge sind häufig auf Sozialhilfe angewiesen und von Altersarmut betroffen. Sie sind zwar oft gut qualifizierte Akademiker*innen, ihre Bildungsabschlüsse wurden aber häufig nicht anerkannt und ihre Arbeitsjahre in der Sowjetunion nicht für die Rente in Deutschland angerechnet.
2. Wo leben sie?
Die Aufnahme postsowjetischer Migrant*innen war staatlich gesteuert: sie sollten gleichmäßig über die Bundesländer verteilt werden. Es galt eine Wohnsitzauflage. Panagiotidis zeigt, dass dieser Plan – unabhängig davon, ob er sinnvoll ist oder nicht – auf den ersten Blick auf Bundesebene funktioniert hat. Mit Ausnahme von Ostdeutschland und ein paar Siedlungsschwerpunkten leben sie relativ gleichmäßig über die Bundesrepublik verteilt.
Im ländlichen Raum sind postsowjetische Migrant*innen oft die größte Einwanderungsgruppe. In Ostdeutschland gibt es zwar insgesamt weniger Menschen mit Einwanderungsgeschichte, postsowjetische Zugewanderte stellen aber durchaus einen beachtlichen Teil der Migrationsbevölkerung.
Panagiotidis zeigt aber auch: Obwohl postsowjetische Migrant*innen gleichmäßig über das Bundesgebiet verteilt sind, leben sie in einzelnen Städten im Vergleich zu polen- oder türkeistämmigen Communities sehr stark konzentriert. Konzentration lasse sich dem Migrationsforscher zufolge nicht dadurch verhindern, Personen auf bestimmte Regionen zu verteilen. Zudem sei die Konzentration nicht negativ zu bewerten: Bei postsowjetischen Migrant*innen sei sie kein "Integrationshindernis" gewesen, da etwa die Teilhabe am Arbeitsmarkt vergleichsweise gut funktioniert hat.
3. Antislawischer Rassismus
Postsowjetische Migrant*innen nehmen laut Panagiotidis einen "eigenartigen Platz in der Vorurteilsstruktur" ein. Sie sind werden als weiß wahrgenommen – und wenn es gut läuft gelten sie als "fleißige Deutsche".
Gleichzeitig herrschen gegenüber ihren Herkunftsländern, insbesondere Russland, massive Vorurteile. Jüdische Kontingentflüchtlinge sind dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft ausgesetzt.
Hinzu komme ein schon lange bestehender antislawischer Rassismus. In der NS-Zeit sah der Generalplan Ost vor, Osteuropa zu kolonisieren und die Menschen dort zu versklaven. Auch in der Gegenwart erleben postsowjetische Migrant*innen rassistische Gewalt, so etwa bei einem Attentat 2000 in Düsseldorf-Wehrhahn, bei dem zehn Personen verletzt wurden und eine Frau ihr ungeborenes Kind verlor.
4. Hohe Zustimmungswerte zur AfD – Woran liegt das?
Postsowjetische Migrant*innen wählen überdurchschnittlich oft die AfD. 2018 äußerten bei einer Umfrage 17,3 Prozent der postsowjetischen Wähler*innen, dass sie die Partei wählen würden. Panagiotidis zufolge ist das vor allem auf einen Rechtsruck unter konservativen Wähler*innen zurückzuführen: Zwar ist die CDU immer noch die beliebteste Partei, jedoch nimmt die Zustimmung zugunsten der AfD ab.
Die AfD erhält dort viele Stimmen, wo der Anteil postsowjetischer Wähler*innen hoch ist. Panagiotidis geht von "neighbourhood effects" aus: Wenn viele Menschen einer Gruppe auf einem Raum leben, wählen sie verstärkt Parteien, die als die "eigene" gelten. Die AfD ist keine russlanddeutsche Partei, sie versucht aber, postsowjetische Wähler*innen für sich zu gewinnen und übersetzt etwa das Parteiprogramm ins Russische. Andere Parteien hätten es versäumt, die Wähler*innen für sich zu gewinnen. Das sei aber nur ein Teil der Wahrheit, so Panagiotidis. Rund 40 Prozent der postsowjetischen Wähler*innen sympathisieren konstant mit Mitte-links Parteien.
Von: Andrea Pürckhauer (Text), Joe Bauer (Grafiken)
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.