Mediendienst: Herr Hansen, wo stehen wir im Prozess?
Felix Hansen: Die Zeugen, Ermittler und Angehörigen der neun Morde wurden weitestgehend gehört. Zurzeit werden Zeugen aus dem Umfeld der Angeklagten in den 90er Jahren und mutmaßliche Unterstützer im Prozess geladen. Im nächsten Komplex wird es um die Sprengstoffanschläge in Köln gehen.
Was wird der Prozess bringen?
Ich sehe nicht, dass er uns erklären wird, was der NSU war und was in den letzten 15 Jahren passiert ist. Er dient dazu, den fünf Angeklagten ihre Taten nachzuweisen. Nur das strafrechtlich Relevante spielt eine Rolle. Ein Problem ist: Etliche Taten sind verjährt, weil sie älter als zehn Jahre sind. Im Prozess gibt es auch keinen Ort, die rassistische Ausrichtung der Polizei-Ermittlungen, also den institutionellen oder strukturellen Rassismus innerhalb der Behörden, zu thematisieren. Die Bundesanwaltschaft unterbindet regelmäßig derartige Versuche der Nebenkläger mit den mittlerweile standardisierten Worten: „Das hat nichts mit den fünf Angeklagten zu tun. Der Prozess ist kein Untersuchungsausschuss.“ Sie verweist dann auf ein Beschleunigungsgebot, dass der Prozess also so zügig wie möglich voranschreiten soll.
Vor dem NSU-Prozess waren die Reporterplätze im Münchener Oberlandesgericht heiß umkämpft. Ist das immer noch so?
Es wurde heißer gekocht, als es dann tatsächlich war. Weder Reporter noch Besucher hatten und haben es schwer, hereinzukommen. Eine kleine Anekdote: Ich stand am ersten Prozesstag – zufällig – fünf Minuten nach Eröffnung des Prozesses vor dem Münchener Oberlandesgericht und unterhielt mich mit einem Kollegen. Der hatte auch keine Platzkarte. In dem Moment öffnete sich die Tür und jemand sagte: Sie können jetzt reinkommen! Anderthalb Stunden später saß ich auf einem der Presseplätze, um die im Vorfeld wochenlang gekämpft wurde.
Heißt das, nicht alle akkreditieren Journalisten waren gekommen?
Ja und die ersten sind nach einer Dreiviertelstunde gegangen. Wir können aber auch sagen: Die größeren Medien mit den entsprechenden Ressourcen berichten beständig über den Prozess. Im Schnitt sind maximal 30 von 50 Journalisten-Plätzen besetzt. Bei besonderen Zeugen wird es auch schon mal voll.
Wie ist die Berichterstattung im Ausland?
Türkische Medien berichten zwar in ihren Deutschland-Ausgaben über den Prozess, in der Türkei aber nicht regelmäßig. Hier fehlt das öffentliche Interesse, meinen die türkischsprachigen Kollegen, die das verfolgen. Bei den englischsprachigen Medien ist es ähnlich. Sie berichten bruchstückhaft und eher selten. Unsere Protokolle sind sehr detailliert und erfordern Kontextinformationen. Sie erschließen sich den nicht-deutschsprachigen Lesern deswegen nicht so einfach. Viele kennen NSU-Watch auch noch nicht. Momentan arbeiten wir daran, das Projekt in der türkischen Community bekannter zu machen.
Die ersten 100 Verhandlungstage sind um – wie viele bleiben?
Das ist schwer absehbar. Der ursprünglich geplante Zeitplan ist hinfällig. Zeugen, die eigentlich schon vor einem halben Jahr gehört werden sollten, kommen erst jetzt. Bis Jahresende gibt es Termine, bis dahin sollen alle Zeugen gehört werden, die in der Anklage auftauchen, aber danach ist offen, wie es weitergeht. Die Nebenkläger haben auch die Möglichkeit, Beweisanträge zu stellen. Unklar ist aber, ob das Gericht weitere Beweisanträge zulassen wird.
Welche Fragen werden Ihrer Meinung nach am Ende des Prozesses unbeantwortet bleiben?
Neben der bereits erwähnten Frage des strukturellen Rassismus innerhalb der Ermittlungsbehörden zum Beispiel die Frage der Opferwahl, also: Wieso gerade diese Mordopfer? Wir wissen, dass es männliche Migranten waren, aber warum traf es gerade die in Nürnberg oder in Rostock? Die Tatorte in den jeweiligen Städten waren oft sehr abgelegen. So sehr, dass man sie als Ortsfremder normalerweise nicht kennen würde. Wie kommt man auf so abgelegene Orte? Gab es nicht vielleicht doch Leute, die Tipps gegeben haben? Wir sind nicht sehr zuversichtlich, dass diese wichtige Frage im Prozess geklärt werden kann. Und das, obwohl das „System NSU“ nur durch die Hilfe seiner Unterstützer funktionieren konnte. Die Bundesanwaltschaft hat sich aber auf eine andere These versteift, nämlich: „Es gab ein Trio“. Und dem rennt es seit zweieinhalb Jahren hinterher.
Felix Hansen koordiniert in Berlin die Arbeit der Website NSU-WATCH, auf der in Deutsch und Türkisch Protokolle von jedem Prozesstag veröffentlicht werden. Er recherchiert seit über zehn Jahren zur extremen Rechten und ist Mitarbeiter beim Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin e.V. (apabiz).
Interview: Dena Kelishadi
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