Menschen mit Migrationshintergrund sind in Deutschland bislang kaum in politischen Ämtern vertreten. Das ändert sich allmählich. Betrachtet man die letzten fünf Bundestagswahlen, lässt sich ein klarer Trend feststellen: Während im Jahr 2005 nur 4,4 Prozent aller Kandidat*innen einen Migrationshintergrund hatten, verdoppelte sich dieser Anteil bis zum Jahr 2021 auf rund 9 Prozent.
Weitere Informationen über die Forschung von Dr. Julia Schulte Cloos können Sie in diesem Artikel finden.
Dieser allgemeine, positive Trend ist jedoch nicht gleichermaßen bei allen Parteien erkennbar. So hat die CDU/CSU ihren Anteil an Kandidat*innen mit Migrationshintergrund kaum gesteigert. Er liegt er bei allen Bundestagswahlen seit 2005 bei rund 3,5 bis 4 Prozent. Von allen sechs hier untersuchten Parteien hat die Partei "Die Linke" mit rund 17 Prozent im Jahr 2021 den höchsten Anteil an Kandidat*innen mit Migrationshintergrund (s. Grafik und Tabelle).
DR. JULIA SCHULTE-CLOOS ist Politikwissenschaftlerin am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der LMU München. Ihre Forschungsgebiete sind politische Systeme, europäische Integration, Wahlverhalten und Rechtspopulismus.
Die Parteien, die sich eher rechts der Mitte verorten (AfD, FDP sowie die CDU/CSU), haben einen besonders geringen Anteil an Kandidat*innen mit einer Einwanderungsgeschichte aus mehrheitlich muslimischen und asiatischen Ländern oder aus Afrika südlich der Sahara. Überdeurchschnittlich viele Kandidat*innen mit Migrationshintergrund in diesen Parteien haben eine Migrationsgeschichte aus süd- und ost-europäischen Ländern oder aus Ländern wie Kasachstan, aus denen viele Aussiedler*innen nach Deutschland eingewandert sind.
In großen Parteien sind die Hürden höher
In unserer Forschung haben wir auch den Anteil der Kandidat*innen mit Migrationshintergrund unter den "Spitzenpositionen" auf den Landeslisten der Parteien untersucht. Unsere Analyse zeigt: Der Anteil der Kandidat*innen mit Migrationshintergrund, die auf den Spitzenpositionen antreten, ist in der Regel geringer als der Gesamtanteil der Kandidat*innen mit Migrationshintergrund einer Partei. Die Grünen (2013, 2017) und die Linkspartei (2021) sind die zwei einzigen Parteien, bei denen der Anteil der Kandidat*innen mit Migrationshintergrund auf den aussichtsreichsten Listenplätzen den entsprechenden Gesamtanteil unter allen Kandidat*innen deutlich übersteigt.
Könnte es sein, dass wenige Kandidat*innen mit Migrationshintergrund in den Listen der Parteien zu finden sind, weil Menschen mit Migrationshintergrund generell wenig Interesse an politischen Ämtern haben? Um erste Hinweise auf diese Frage zu erhalten, vergleichen wir den Anteil an Kandidat*innen mit Migrationshintergrund in kleineren Parteien mit dem Anteil in größeren Parteien.
Die "Kleinparteien" decken, genau wie die etablierten Parteien, ein breites ideologisches Spektrum ab. Unter die Kategorie "Kleinparteien" fällt auch eine große Zahl an Einzelkandidaturen (insgesamt sind das 610). Der Anteil an Kandidat*innen mit Migrationshintergrund unter den kleineren Parteien ist tendenziell höher als bei den etablierten Parteien. Das deutet darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund durchaus Interesse an einer aktiven politischen Teilhabe haben – bei den etablierten Parteien jedoch höhere Hürden finden.
Die Ergebnisse meiner Studie erscheinen dahingehend ermutigend, als dass sie aufzeigen, dass es in den letzten fünfzehn Jahren einen eindeutigen, positiven Trend hin zu einer größeren aktiven politischen Teilhabe unter Bürger*innen mit Migrationshintergrund bei Bundestagswahlen gab. Allerdings verdeutlichen die Ergebnisse auch die starken Unterschiede zwischen den Parteien, was darauf hindeutet, dass womöglich nicht alle Parteien gleichermaßen darum bemüht sind, diesen positiven Trend weiter zu fördern.
ZUR METHODIK
In ihrem Forschungsprojekt hat Julia Schulte-Cloos die verschiedenen Herkunftsländer aller Kandidat*innen untersucht, die bei den letzten fünf Bundestagswahlen in Deutschland zur Wahl antraten. Zwischen 2005 und 2021 waren das insgesamt mehr als 22.000 Kandidat*innen. Sie hat sich bei ihren Analysen auf künstliche Intelligenz gestützt. Ausgangspunkt der Einordnung war der Nachname der Kandidat*innen. Sie hat dann zusätzlich manuell die Vornamen der Kandidat*innen analysiert und, falls vorhanden, durch online verfügbare biografische Informationen zu den Kandidat*innen ergänzt.
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