Maximilian Popp, Journalist beim Spiegel, hat in der Türkei studiert. Fabio Zanolli, Gymnasiast aus Dortmund, ist vor kurzem von einem Austauschjahr aus Ankara zurückgekehrt. Esra Küçük, Projektleiterin für die Junge Islamkonferenz, hat türkische Vorfahren. Alle drei diskutierten kürzlich in Berlin über die gängigen Vorurteile zum Land zwischen Asien und Europa. Der Anlass: Die Vorstellung des für den Schulunterricht konzipierten Heftes “Türkei heute: Menschen, Kulturen, Kontinente”, vom Zeitbild-Verlag und der Stiftung Mercator.
Die drei jungen Erwachsenen verkörpern die vielfältigen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Gemeinsam ist ihnen: In der Schule haben sie über das Land nichts erfahren. Das Themenheft „Türkei heute“ will diese Lücke nun schließen. Es wurde für Schüler ab der 8. Klasse entwickelt und richtet sich sowohl an Schüler mit als auch ohne Migrationshintergrund. In kurzen Texten werden Fragen zur Geschichte und Wirtschaft der Türkei, der Gleichberechtigung von Frauen, zum EU-Beitrittsprozess und dem Umgang mit Minderheiten vorgestellt. Es will Anknüpfungspunkte für Diskussionen in den Klassen liefern. “Wir haben die Lehrpläne der Bundesländer analysiert und festgestellt, dass das fehlt”, sagt Ann-Kathrin Engler vom Zeitbild-Verlag. “Gleichzeitig haben wir von vielen Lehrern gehört, dass sie ein solches Themenheft gerne hätten."
Das erscheint naheliegend, betrachtet man die Zusammensetzung der Klassen. Von den Kindern und Jugendlichen bis 15 Jahren stammen mittlerweile 32 Prozent aus Einwandererfamilien. In Städten wie Frankfurt, München und Stuttgart sind es sogar mehr als die Hälfte der Schüler. Dennoch kommen die Herkunftsländer vieler Schüler wie die Türkei, Italien, Serbien, Montenegro oder Griechenland in deutschen Schulbüchern und Lehrplänen so gut wie nicht vor und wenn, dann meist in unzeitgemäßen Darstellungen.
Verzerrte Bilder
Tauchen Migranten und ihre Herkunftsländer in Schulbüchern auf, dann meist in verzerrter Form. Die Studie „Repräsentationen der Migrationsgesellschaft“ der Universität Hannover hat aktuelle Schulbücher aus dem niedersächsischen Lehrplan analysiert. Dabei stellten die Forscher fest: Einwanderer werden meist mit Ausländern gleichgesetzt und vor allem auf ihren Nutzen für die deutsche Wirtschaft reduziert. In einem Porträt der Türkei in einem Erdkunde-Buch kommen als Berufsgruppen beispielsweise nur “Basarhändler/-innen” und “Feldarbeiter/-innen” (sic!) vor. Ein Bild, das der modernen Türkei längst nicht mehr entspreche und zudem eine Kontinuität zwischen Niedriglohnarbeit im Heimatland und in Deutschland suggeriere.
“Es gibt da eine Leerstelle in den Schulbüchern”, sagt Dirk Lange, Professor für die Didaktik der Politischen Bildung und Mitautor der Studie. Das gilt auch für die Geschichtsauffassung. “In den Schulbüchern wird weiterhin eine deutsche Nationalgeschichte wiedergegeben, die sich aber zu einer Geschichte der Deutschen weiterentwickeln muss, die die Identitäten und Geschichten aller Schülerinnen und Schüler einschließt.”
Die Studie „Bilder von Fremden“ kam bereits 2005 zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Analyse hessischer und bayerischer Schulbücher ergab: Bei der Darstellung von Einwanderern wird häufig ihre Andersartigkeit und Fremdheit betont – sei es bei der „Nation“, „Kultur“, „Religion“, ihrer Haltung zur „Modernität“ oder gar ihrem Aussehen. Tauchten Darstellungen der Türkei auf, waren sie mit Überschriften wie „Kazim erzählt aus seiner Heimat” versehen – und vermittelten damit, dass die Nachkommen türkischer Einwanderer nach wie vor in der Türkei und nicht in Deutschland beheimatet sind.
Bildungsreisen, Seminare, Schüleraustausche
Einige engagierte Lehrer versuchen dem mit Projektseminaren entgegenzuwirken. Die Walther-Rathenau-Schule in Berlin etwa bietet im Rahmen des Kurses “Integration und Partnerschaft” Austauschtage mit einer Schule in der Westtürkei an. Zuletzt nahmen daran 13 Schüler teil, fünf davon mit türkischem Migrationshintergrund. “Für die Schüler mit türkischen Wurzeln war es eine wichtige Erfahrung, als Experten angesehen zu werden”, sagt Dorothee Poche. “Plötzlich waren die Geschichten ihrer Familie gefragt oder sie wurden in der Türkei als Dolmetscher gebraucht.”
Bildungsforscher Dirk Lange erklärt, dass die Auseinandersetzung mit Ländern wie der Türkei nicht nur Kindern mit eigenen familiären Bezügen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen, sondern für alle förderlich seien. “Geschichte muss anders gedacht und mehrperspektivisch werden”, sagt Lange . “Deutschland verändert sich dauerhaft – das muss im Geschichtsunterricht vermittelt werden und dazu gehören auch die Geschichten der Einwanderer.”
Bis es soweit ist, haben Vereine und Lehrer selbst die Initiative ergriffen und Projekte gestartet. In Kursen und Bildungsreisen bekommen interessierte Schüler Gelegenheit, sich mit der Geschichte, Kultur, Religion und Gesellschaft der Herkunftsländer ihrer Vorfahren und damit einem Teil ihrer eigenen Identität zu befassen.
Die Religions- und Geschichtslehrerin Nadja Clam etwa bietet am Albert-Einstein- und am Hannah-Arendt-Gymnasium in Berlin den Oberstufenkurs “Die Türkei auf dem Weg nach Europa” an. Mit wenigen Ausnahmen hätten alle der Teilnehmer eine türkische Herkunft. “Im Kurs können sie die Erzählungen, die es in ihren Familien gibt, mit der Realität abgleichen und sich kritischer mit ihrer Herkunft auseinandersetzen”, sagt Clam. “Je mehr sie sich mit der Geschichte des Landes befassen, desto selbstbewusster werden sie und desto besser können sie für sich selbst bestimmen, was es bedeutet, Deutsche mit türkischen Wurzeln zu sein.”
Bettina Alavi von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg schlägt dafür die Entwicklung einer Begegnungsgeschichte vor, so wie es sie bereits für Frankreich oder Polen gibt. “Bei beiden Ländern wurde eine solche Auseinandersetzung wegen der langen Konfliktgeschichte Deutschlands mit ihnen entwickelt,” sagt sie. “Aber man muss ja nicht nur von Konflikten ausgehen.”
Von Lalon Sander
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