Die Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber muslimischen Einwanderern ist sehr häufig von Stress bestimmt. Dazu gehören Anspannung, Gefühle der Überforderung, häufig auch Gereiztheit. Vieles spricht dafür, dass das nicht (nur) eine Reaktion auf ein Problem ist, sondern selbst Teil des Problems. Denn der selbsterzeugte Stress verbaut oft naheliegende Lösungen.
Unsere Erfahrungen im Projekt "Brücken im Kiez" der Stiftung Brandenburger Tor verdeutlichen das. Von 2008 bis 2014 brachte es Vertreter Kreuzberger Schulen, muslimische Familien und Gemeinden zusammen. Dabei sollten die Beteiligten strittige Fragen klären und die Zusammenarbeit ausloten.
An allen Schulen, die im Projekt vertreten waren, bildeten die Schüler mit muslimischem Hintergrund die Mehrheit. Das Lehrerkollegium wiederum hatte fast ausnahmslos einen deutschen Hintergrund. Umso wichtiger erscheint es mir, eingespielte Formen des Umgangs zu reflektieren.
Was im Umgang mit dem vermeintlich "Anderen" Stress erzeugt
Stress erzeugt es etwa, wenn man im Umgang miteinander die Unterschiede statt die Gemeinsamkeiten zum Ausgangspunkt nimmt. In unserem Projekt beispielsweise lehnten alle Gesprächsteilnehmer einen autoritären Patriarchalismus, also eine „Väter-„ oder „Männerherrschaft“, und das Schlagen von Kindern ab. Einig waren sie sich auch, dass die Ausbildung von Jungen und Mädchen bestmöglich gefördert werden sollte, ebenso wie das Wohlergehen und die innere Stärke von Kindern und eine Kultur des Respekts und der gegenseitigen Toleranz.
Meinungsverschiedenheiten gab es vor allem im Bereich der Sexualität. Geht man von den Gemeinsamkeiten aus, erscheinen diese Differenzen als ein Rest, mit dem man diplomatisch umgehen sollte. Geht man dagegen von den Unterschieden aus, erscheint alles in einem anderen Licht. Dann stoßen nicht nur Teilbereiche, sondern "Welten" zusammen. Die Gemeinsamkeiten relativieren sich und auf einmal wird alles schwierig und anstrengend.
Prof. Dr. WERNER SCHIFFAUER ist Migrations-forscher und Professor für vergleichende Sozial- und Kultur-anthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Islam und Islamismus. Er ist außerdem Vorsitzender des Rats für Migration (RfM). Foto: © Heide Fest
Ein zweiter stresserzeugender Faktor ist die „Homogenisierungsfalle“. Natürlich waren nicht alle Schulleiter und alle muslimischen Teilnehmer einer Meinung. Aber: Ein falsches Wort und die Polarisierung war wieder da. „Muslime“ und „Schulleiter“ standen sich gegenüber. Das jeweilige „Wir“ konstruierte ein „Die“. In unserem Mikrokosmos trat auf, was in der Gesamtgesellschaft gang und gäbe ist: „Muslime“ werden als ein Block wahrgenommen. Das führt zur Tendenz, Grenzen zu ziehen, um sich zu behaupten. Für die muslimische Minderheit ist das extrem kränkend: Alle werden „über einen Kamm geschoren“, Besonderheiten werden nicht gesehen. Muslimen vermittelt das oft das Gefühl: „Die wollen uns nicht.“
Ein dritter kritischer Punkt ist die „Kulturfalle“: Dabei wird eine Kultur (christlich-jüdisch geprägt) einer anderen (muslimisch geprägt) entgegen gesetzt. Statt den Blick auf die historischen Überschneidungen zu richten, fällt er auf das Trennende – und damit fast von selbst auf das Gegeneinander, auf die kriegerischen Auseinandersetzungen. Daraus nähren sich Misstrauen und das Bedürfnis nach Kontrolle. Als ein Schüler ein Projekt zur Überlegenheit der muslimischen Welt in der frühen Neuzeit vorschlug – eine wissenschaftlich schwer bestreitbare Tatsache – wurde dies von den Lehrern als „islamistische Überhöhung“ angesehen. Der Schüler wiederum fühlte sich missverstanden und gekränkt.
Nur ein angepasster Islam wird akzeptiert
Stresserzeugend ist es auch, sich von Symbolen und Ausdrucksformen irritieren zu lassen. Leicht wird dann eine religiös motivierte Handlung wie etwa die Weigerung einer Frau, einem Mann die Hand zu geben, als religiöser Extremismus interpretiert. Unser Projekt machte aber deutlich: Der Wert, der auf Symbole gelegt wird, steht oft für den Wunsch, sich (religiös) treu zu bleiben und sich gleichzeitig in die Gesellschaft einzubringen. Das ist ein schwieriger Balanceakt. Das als No-Go zu bezeichnen, bedeutet gerade für diejenigen eine Ohrfeige, die sich als Brückenbauerinnen engagieren wollen. In der Folge ziehen sich viele zurück.
Gerne wird ein „europäischer“, „deutscher“ oder „liberaler“ Islam von der Mehrheitsgesellschaft als ideal markiert. Dieser – und nur dieser – Islam passt in unsere Gesellschaft. Damit werden Bewertungsmaßstäbe gesetzt: Dieser Muslim ist „schon“ soweit, dieser „noch ganz“ zurückgeblieben. Das ist verletzend, weil damit eine systematische Abwertung verbunden ist. Man wird danach bewertet, wie weit man sich schon angepasst – gefühlt: unterworfen – hat. All das erschwert auch die Entwicklungen in den Gemeinden.
Im Projekt „Brücken im Kiez“ haben Werner Schiffauer und sein Team Potenziale und Hürden für eine bessere Zusam-menarbeit von Schulen, muslimischen Elternhäusern und Moscheen heraus-gearbeitet. Die Ergebnisse erschienen Ende 2015 im Buch „Schule, Moschee, Elternhaus – Eine ethnologische Intervention“ im Suhrkamp Verlag (Berlin).
Ein weiterer Stressfaktor ist die Tendenz zu Schreckens-Szenarios. Die Auseinandersetzungen um das Schulgebet sprechen Bände. Sie sind bestimmt von imaginären Ängsten: Ein Raum für das Schulgebet führe zu religiösen Konflikten. Alle würden beten wollen und damit einen geordneten Schulbetrieb unmöglich machen. Mehr muslimische Schüler würden kommen, andere wegbleiben. Dadurch versetzt man sich vorzeitig in Stress, statt Entwicklungen abzuwarten. Als das Schulgebet an einer Weddinger Schule in erster Instanz erstritten wurde, ist nichts von alledem eingetreten – was allerdings die zweite Instanz nicht davon abhielt, das Urteil zu kassieren.
Muslimischen Initiativen werden oft Steine in den Weg gelegt
Sich an Zuschreibungen festzuhalten, ist ebenfalls nicht konstruktiv. 2009 riefen Vertreter aus konservativen islamischen Kreisen die Initiative „Isl’amour – Hand in Hand gegen Zwangsheirat“ ins Leben. Das Projekt wurde vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin begrüßt. Die beantragte Unterstützung im Rahmen des Bundesprogramms "Vielfalt tut gut" wurde vom Familienministerium jedoch mit folgender Begründung abgelehnt: "Die (...) genannten Kooperationspartner, das Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung (IZDB), das islamische Kultur- und Erziehungszentrum e. V. (IKEZ) sowie der Verein INSSAN für kulturelle Interaktion, stehen bei den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und des Landes Berlin in dem Verdacht mit der Muslimbruderschaft – Islamische Gemeinschaft in Deutschland in Verbindung zu stehen." Damit wurde ein progressives Programm gekippt, das genau von den Gemeinden getragen wurde, denen man in der Öffentlichkeit eine konservative Familienpolitik vorwarf.
Ich will nicht bestreiten, dass der Umgang mit religiös motivierten Forderungen und Positionen die üblichen Routinen durcheinander bringen kann. Dennoch: Die durch Religion bedingten Belastungen sind die eine, die Verarbeitungsmechanismen der "deutschen" Mehrheitsgesellschaft die andere Seite. Gerade in Bezug auf den Islam macht es sich diese wesentlich schwerer als nötig. Der Integration, die einerseits gewünscht wird, werden gleichzeitig Steine in den Weg gelegt. Oft hat man den Eindruck, dass die positive Energie, die Einwanderer mitbringen, energisch gedeckelt wird. Und der Stress, über den man sich beklagt, ist oft selbsterzeugt.
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