Der Islamismus ist ein schillerndes Phänomen. Als „islamistisch“ werden üblicherweise so unterschiedliche – und nicht selten sogar miteinander verfeindete – Bewegungen wie die Hisbollah und der IS bezeichnet. Sie haben gemein, dass sie ihre politischen Ziele mit Gewalt oder Terror erreichen wollen. Aber auch demokratische Parteien und gewaltfreie Gruppierungen, die auf ganz unterschiedliche Weise versuchen, ihre religiösen Überzeugungen in eine politische Agenda umzusetzen, werden unter dem Oberbegriff „Islamismus“ zusammengefasst.
Um Einblick in die Struktur bestimmter islamistischer Netzwerke zu gewinnen, kann es für Sicherheitsbehörden hilfreich sein, den persönlichen Verbindungen zwischen einzelnen Akteuren nachzugehen. Diese Verbindungen oder Kontakte sprechen aber nicht für sich – sie müssen interpretiert werden.
Leider beschränken sich Sicherheitsbehörden oft darauf, bloße Verbindungen und Kontakte nachzuweisen. Ihr geheimdienstlicher Blick beschränkt sich darauf festzustellen, dass miteinander kommuniziert wurde oder wird. Zweitrangig ist dabei, was kommuniziert wurde oder wird. So wird etwa aus der Tatsache, dass eine Person oder Organisation Kontakte zu anderen Personen oder Institutionen unterhält, die der Muslimbruderschaft oder dem Salafismus zugerechnet werden, vorschnell geschlossen, dass auch sie entsprechende Überzeugungen vertritt – selbst wenn dies durch keine einzige entsprechende Äußerung belegt wird. Aus bloßen Kontakten wird der Vorwurf des Extremismus abgeleitet. Wenn dies geschieht, sprechen wir von Kontaktschuld.
Je vager der Vorwurf, desto mehr Raum für die Fantasie
Dabei wird durch diesen Vorwurf erst ein homogenes und geschlossenes Umfeld konstruiert, das es so gar nicht gibt. Es wird suggeriert, dass es praktisch egal ist, mit welchem Flügel eines als islamistisch bezeichneten Netzwerks man im Kontakt steht. Schon der bloße Kontakt lässt einen des Extremismus verdächtig erscheinen. Dies ist problematisch, denn damit wird die Unschuldsvermutung ausgehebelt. Berichte, die nach der Logik der Kontaktschuld verfahren, entfalten eine Suggestivkraft, indem sie konkrete Personen mit vagen Vorwürfen in Verbindung bringen. In solchen Berichten werden oft eine Fülle von Einzelpersonen namentlich aufgelistet, die auf bedrohliche Weise untereinander verflochten scheinen. Weil offen bleibt, was genau die genannten Personen verbindet, können Leser diese Leerstellen mit ihrer Fantasie ausfüllen.
Prof. Dr. WERNER SCHIFFAUER ist Senior Scholar am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Er forscht zum Thema Islam und Muslime in Deutschland und ist Mitglied des Rats für Migration (RfM). Kürzlich hat er zwei Studien zu Flüchtlingsprojekten in Deutschland veröffentlicht.
Das befördert eine hochproblematische Verdachts- und Misstrauenskultur. Wenn man einer Person oder Organisation, die sich ausdrücklich zur demokratischen Grundordnung und Verfassung bekennt, Kontakte zu Gruppen nachweisen kann, die als problematisch angesehen werden, dann ist es ein Leichtes, ihr eine heimliche Agenda zu unterstellen. Der bloße Kontakt reicht aus, sie zu „überführen“ und ihr Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten als Lippenbekenntnis oder gar Verschleierungstaktik zu „entlarven“.
Wie schwer man sich gegen solche Vorwürfe wehren kann, mussten etwa Teilnehmer des Berliner Islamforums erfahren. Sie hatten sich jahrelang im Sinne eines weltoffenen und demokratischen Islams engagiert und wichtige Brücken gebaut, wurden aber vom Verfassungsschutz unter Beobachtung gestellt. Nachdem sie sich mit einem Auskunftsersuchen an die Behörden gewandt hatten, um herauszufinden, warum sie beobachtet wurden, zeigte sich: Außer dem Nachweis von Kontakten zu als problematisch eingestuften Personen oder Organisationen lag nichts gegen sie vor. Einmal war es die Teilnahme an einem Fastenbrechen, das von einem Jugendverband veranstaltet worden war, dem Verbindungen zur Muslimbruderschaft nachgesagt wurden. Ein anderes Mal lautete der Vorwurf, als Mitglied der islamischen Gemeinschaft Milli Görüs einen Koran-Rezitationswettbewerb organisiert zu haben. Ein Verweis auf irgendwelche problematischen Aussagen, die geäußert wurden, ließ sich in diesen Berichten des Verfassungsschutzes hingegen nicht finden.
Wie man Zweifel an liberalen Muslimen sät
Bezeichnend ist, dass solche Kontakte stets nur belastend, aber nicht entlastend ausgelegt werden. Hat sich jemand mit einem eindeutig liberalen Profil im interreligiösen Dialog engagiert und die Kooperation seiner Gemeinde mit Sicherheitsbehörden vorangetragen, sich aber zugleich in einer als islamistisch eingestuften Organisation engagiert, werden daraus keine Zweifel an der Bewertung dieser Organisation abgeleitet – man könnte ja die Mitgliedschaft von liberalen Personen in einer solchen Organisation als Beleg für deren Offenheit und Pluralität nehmen. Doch die Schlussfolgerung verläuft immer einseitig: Stattdessen werden Zweifel an der Liberalität und Integrität der betreffenden Person laut.
Im Juli 2018 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin den Zweifeln an dieser Verdachtslogik Rechnung getragen. Es urteilte im Sinne der Neuköllner Begegnungsstätte, auch als Dar as Salam Moschee bekannt, die gegen ihre Erwähnung im Berliner Verfassungsschutzbericht geklagt hatte. Seit diesem Urteil wird die Moschee im Bericht des Verfassungsschutzes nicht mehr erwähnt.
Der Moschee und deren Imam waren Kontakte zu Organisationen nachgewiesen worden, die wiederum Kontakte zu anderen Organisationen unterhalten hatten, denen verfassungsfeindliche Ziele nachgesagt wurden. Das Oberverwaltungsgericht Berlin hielt die bloße Aufzählung von Kontakten als Beleg für angeblichen Extremismus nicht für ausreichend: Es müsse schon deutlich gemacht werden, ob der Moschee selbst verfassungsfeindliche Bestrebungen nachgewiesen werden könnten oder nicht. Sonst handele es sich um eine unzulässige „Verdachtsberichterstattung“.
Damit hat zum ersten Mal ein deutsches Gericht grundsätzliche Zweifel an der Kontaktschuld-Logik vorgebracht und staatlichen Instanzen wie dem Verfassungsschutz eine Grenze gesetzt. Es ist zu hoffen, dass das Urteil auch andere dazu anregt, Kontakte als das zu nehmen, was sie sind: erste Hinweise auf personelle Verbindungen, die für sich genommen aber noch keine Aussagekraft besitzen. Insbesondere Journalisten sollten sich von dieser Verdachtslogik frei machen. Im Zweifel sollte auch in der Medienberichterstattung gelten, dass Menschen oder Organisationen, die des Islamismus verdächtigt werden, bis zum Beleg dieses Vorwurfs als unschuldig zu gelten haben.
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