Seit Anfang 2021 ist die sogenannte zentrale Mittelmeerroute wieder zur Hauptroute für Menschen geworden, die über das Mittelmeer nach Europa gelangen wollen. Während deutlich weniger Menschen nach Griechenland und Spanien kommen, steigt nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks UNHCR die Zahl der Personen, die Italien erreichen.
Die Migrationsbewegungen auf der Route folgen ungefähr demselben Muster wie im Jahr 2020, sagt Safa Msehli, Sprecherin der "Internationalen Organisation für Migration" (IOM). "Es gibt mehr Menschen, die versuchen, aus Libyen und Tunesien nach Italien zu gelangen", so Msehli.
Besorgniserregend ist, dass deutlich mehr Menschen, die die Überfahrt versuchen, ums Leben kommen, sagt die IOM-Sprecherin: Von 100 Personen, die 2020 über die zentrale Mittelmeer-Route nach Europa kamen, starb nach Angaben der IOM eine Person. In diesem Jahr sind es zwei von hundert Personen.
"Das zentrale Mittelmeer ist besonders gefährlich", sagt Msehli. Zum einen sei der Seeweg nach Italien sehr lang. Zum anderen gäbe es immer noch keine klare Strategie für die Seenotrettung. Derzeit patrouilliert ein einziges Schiff einer privaten Seenotrettungs-Organisation im zentralen Mittelmeer – die Ocean Viking von "SOS Mediterranée". "Es fehlen klare Regeln", sagt die IOM-Sprecherin. "Wenn eine NGO Schiffbrüchige im Meer rettet, kann es Tage oder Wochen dauern, bis sie diese Personen ans Land bringen darf."
Ein größerer Anteil von Menschen wurde auch nach Angaben der IOM auf Anfrage des MEDIENDIENSTES von Einheiten der libyschen, tunesischen und algerischen Küstenwache aufgegriffen. Geflüchtete, die von der libyschen Küstenwache festgenommen werden, werden in der Regel in einem der vielen Lager inhaftiert, die die libysche Regierung sowie verschiedene bewaffneten Milizen betreiben.
"Im vergangenen Jahr ist die Lage in den libyschen Haftlagern noch schlimmer geworden, viele sind überfüllt", sagt Msehli gegenüber dem MEDIENDIENST. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden mehr als 15.000 Geflüchtete von der libyschen Küstenwache aufgegriffen – fast alle wurden inhaftiert. Zudem ist es für internationale Organisationen schwieriger geworden, die Situation in den Lagern zu beobachten.
Warum kommen mehr Menschen über das zentrale Mittelmeer?
Aufgrund der Einreisebeschränkungen, die wegen der Covid-19 Pandemie in vielen Ländern eingeführt wurden, ist es für Menschen aus Drittstaaten schwieriger geworden, nach Europa zu gelangen. So sind im Jahr 2020 etwa 23 Prozent weniger Migrant*innen über das Mittelmeer nach Europa gekommen als im Vorjahr.
Dass die zentrale Mittelmeerroute nun wieder an Bedeutung gewinnt, hat vor allem mit den Folgen der Pandemie zu tun. Viele afrikanische Staaten leiden unter Wirtschaftskrisen. Das veranlasst viele Menschen, ihre Länder zu verlassen. Laut einer Umfrage des Migrations-Forschungsinstituts "Mixed Migration Centre" (MMC) haben 43 Prozent der befragten Migrant*innen in West- und 53 Prozent in Nordafrika beklagt, dass die Pandemie bei ihnen tiefe finanzielle Einschnitte verursacht hat. Für mehr als ein Drittel der Befragten war die Pandemie ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung, auszuwandern.
Anders als in den vergangenen Jahren kommen deutlich weniger Geflüchtete aus Subsahara-Afrika oder aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan nach Europa. Von den Menschen, die in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Europa gelangt sind, kamen etwa 15 Prozent aus Bangladesch. Viele von ihnen sollen jahrelang in Libyen gelebt und gearbeitet haben. Wegen der Wirtschaftskrise im Bürgerkriegsland haben viele von ihnen die Arbeit verloren.
"Besser das Leben riskieren, als hier zu verelenden"
Es sind vor allem Menschen, die sich bereits in Nordafrika befinden – Einheimische sowie Migrant*innen – die derzeit nach Europa kommen, haben die MMC-Forscher*innen festgestellt. Rund 80.000 Migrant*innen sollen im vergangenen Jahr Libyen verlassen haben.
Auch aus Tunesien versuchten viele Menschen nach Italien zu gelangen. Die Covid-Krise hat das nordafrikanische Land besonders heftig getroffen, sagt Romdhane Ben Amor von der tunesischen Organisation "Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux" (FTDES). Besonders die Tourismusbranche hat unter den Einreisebeschränkungen stark gelitten. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant. Darüber hinaus grassierte das Virus wie in keinem anderen nordafrikanischen Land. "Es herrschte Hoffnungslosigkeit und Frust. Viele Menschen – vor allem junge Leute und Migrant*innen, die seit wenigen Jahren in Tunesien leben – haben dabei beschlossen, dass es besser ist, das Leben im Meer zu riskieren, als hier zu verelenden", so Ben Amor.
Von Fabio Ghelli
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