Wie kann das Sterben im Mittelmeer verhindert werden? Was sind die Perspektiven für eine europäische Migrationspolitik nach dem Flüchtlingsdrama von Lampedusa? Ein häufig geäußerter, offenbar jedoch selten ernsthaft diskutierter Vorschlag lautet, die Grenzen zu öffnen. Die Kulturanthropologin und Migrationsforscherin Sabine Hess hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärt, warum ein solches Szenario durchaus denkbar wäre. Der Mediendienst stellt ihre Thesen vor und verweist auf relevante Studien.
"Eine Öffnung der Grenzen ist gar nicht so unwahrscheinlich"
Eine Öffnung der Grenzen für Migration stellt laut Hess eine realistischere Option dar als oft angenommen. „Uns wird nur vorgegaukelt, das sei eine absurde, linksutopistische Forderung“, so die Forscherin. Im neoliberalen Wirtschaftsdiskurs etwa werde die freie Wanderung von Arbeitskräften schon lange als möglicher und wünschenswerter Weg diskutiert. „Weil sie wissen, dass das den Wettbewerb erhöht und die Löhne drückt“, so Hess im Interview mit der SZ. Sowohl in Deutschland als auch in der EU seien Politiker auf diese Interessen eingegangen und hätten entsprechende Reformen gefordert.
Auch in der Wissenschaft wird das Szenario offener Grenzen schon länger durchgespielt. So untersuchte die Studie "People Flow" des britischen Thinktanks Demos bereits 2003 die Schwächen restriktiver Maßnahmen und diskutierte mögliche Alternativen zum Konzept der Grenzkontrolle.
"Nur ein verschwindend geringer Anteil kommt nach Europa"
Auf die häufig geäußerte Befürchtung, eine Öffnung der Grenzen könnte einen „Ansturm“ von Migranten zur Folge haben, erwidert Hess: „Es ist eine totale eurozentristische Überschätzung, dass alle Migrationsbewegungen der Welt nach Europa führen.“ Die überwiegende Mehrheit aller Migranten wandere in andere Regionen aus, „nur ein verschwindend geringer Anteil“ komme nach Europa. Mit einem starken Anstieg der Wanderungszahlen durch die Eröffnung legaler Migrationswege sei daher nicht zu rechnen.
Auch in Bezug auf Fluchtbewegungen seien die Befürchtungen weitestgehend unbegründet, denn nur wenige könnten sich den Weg nach Europa leisten. Die Flüchtlinge, die es hierher schafften, seien nicht – wie häufig angenommen – die „Ärmsten der Armen“, sondern diejenigen, die „über finanzielle Ressourcen und Netzwerke verfügen, die das Know-how haben, ein solches Migrationsprojekt zu realisieren“, so Hess.
Das belegen auch offizielle Statistiken: Laut der Weltbank wanderten im Jahr 2010 mehr als 43 Prozent der Migranten aus Entwicklungsländern in andere Entwicklungsländer. Nach Einschätzung von Experten ist die Zahl in der Realität noch höher, da Wanderungsbewegungen in Entwicklungsländern oft nicht systematisch und damit nur unzureichend erfasst werden.
"Wir vergeuden Potenzial"
Laut Hess stellt eine liberale Einwanderungspolitik keine Bedrohung, sondern vielmehr eine Chance für die Zielländer dar. Die meisten Migranten seien gut ausgebildet, „ehrgeizig“ und mutig – Menschen, „die aus ihrem Leben etwas machen wollen. Wir vergeuden hier ein Potenzial an Leuten, die eigentlich genau das neoliberale Bild des Arbeitnehmers verkörpern, das sich die Wirtschaft wünscht“, so Hess. Mögliche negative Konsequenzen wie zum Beispiel Lohndumping abzuwenden, sei auch Aufgabe der Gewerkschaften. Statt einer „protektionistisch-nationalstaatlichen“ Politik müssten sich diese verstärkt um eine europäische Vernetzung bemühen und verbindliche Richtlinien für die Beschäftigung von Arbeitskräften aus dem Ausland schaffen.
Die Heinrich-Böll-Stiftung untersucht in einem kürzlich veröffentlichten Dossier, wie nationale Gewerkschaften auf globale Migrationsprozesse reagieren und inwieweit sie sich für Arbeitskräfte aus dem Ausland öffnen.
"Die Brain-Drain-Debatte ist ein Fake"
Auch die Herkunftsländer profitieren laut Hess von der Eröffnung legaler Migrationswege. Längst drehe sich die Debatte nicht mehr um den sogenannten „Brain-Drain“-Effekt, wonach die Herkunftsländer durch Auswanderung an Kapital und Entwicklungsmöglichkeiten verlieren. Vielmehr dominiere inzwischen die Auffassung, dass Migration einen wirtschaftlichen Mehrwert für die Länder darstellt. „Mittlerweile geht es um Brain-Gain“, betont Hess. So hielten die Herkunftsländer die Diaspora-Communities dazu an, ihr im Ausland gesammeltes Kapital in ihre Heimat zu investieren. „Die Länder wissen, dass das nicht mehr über Remigration funktioniert, sondern dass den auswandernden Leuten flexiblere Modelle angeboten werden müssen“, so Hess. Verglichen zu den Zielländern seien die Herkunftsländer hier „viel fortschrittlicher und eher bereit, neue postnationale Modelle zu entwickeln“.
Wie solche Modelle aussehen können, zeigt die von der Weltbank herausgegebene Expertise "Diaspora for Development in Africa". Mit dem Zusammenhang von Migration und Entwicklung setzt sich auch die Handreichung "Geldtransfers von Migranten in der Entwicklungszusammenarbeit" der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit auseinander.
"Vielleicht ist dieses System an eine Grenze gekommen"
Laut Hess stehen die Industriestaaten insbesondere aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit in der Pflicht, neue legale Wege für Migration zu eröffnen. „Es ist historische Verdrängung zu glauben, wir könnten einen Wohlstand, der aus jahrhundertealter Ausbeutung entstanden ist, einfach für uns behalten“, so Hess. Der Tod hunderter Flüchtlinge habe vor Augen geführt, dass die derzeitige Praxis nicht länger aufrechterhalten werden könne. „Vielleicht ist dieses System jetzt an eine Grenze gekommen.“
Von Jennifer Pross
Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universtität Göttingen. Sie leitet dort unter anderem das Labor des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neben den Themen Migration und Grenzregime auch Transnationalisierung, Europäisierung und Gender Studies.
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.