Weil die Ausweiskontrollen an den Grenzen zu den Nachbarstaaten durch das Schengen-Abkommen wegfielen, führte Deutschland in den 90er Jahren neue Maßnahmen zur Verhinderung irregulärer Migration ein. Seit 1998 dürfen Beamte der Bundespolizei etwa Reisende auf Bahnhöfen, Flughäfen und in Zügen anhalten und ihren Ausweis überprüfen, wenn sie annehmen, dass er oder sie gerade aus dem Ausland eingereist ist. Eine Praxis, die seit Jahren in der Kritik steht. Der entsprechende Absatz in Paragraf 22 Bundespolizeigesetz zu "Befragung und Auskunftspflicht" klingt zunächst harmlos:
(1a) Zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet kann die Bundespolizei in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes (§ 3), soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, daß diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden, sowie in einer dem Luftverkehr dienenden Anlage oder Einrichtung eines Verkehrsflughafens (§ 4) mit grenzüberschreitendem Verkehr jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, daß mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen.
Der ausschlaggebende Wortlaut: Die Beamten entscheiden aufgrund von "Lageerkenntnissen und grenzpolizeilicher Erfahrung". Die vage Formulierung bietet Spielraum und dient bisweilen als Rechtfertigung für Stereotype. So führt die Erfahrung offenbar zu phänotypischen Zuschreibungen wie "dunkle Hautfarbe, also nicht aus Deutschland".
Diese Annahme wird als selbstverständlich hingenommen: So erklärte das Verwaltungsgericht Koblenz zu einem Fall von racial profiling von 2010, dass Personenkontrollen auf der Grundlage von Paragraf 22 Abs. 1 a BPolG nicht rechtswidrig seien, wenn die Auswahl der Kontrollierten „anhand von Hautfarbe und Gesichtszügen“ erfolge. Mit Blick auf ihren Auftrag, irreguläre Migration zu verhindern, sei es nicht zu beanstanden, wenn Polizisten ihre Überprüfungen an Indizien ausrichten, die „auf das Herkunftsland der Reisenden“ schließen ließen. Dazu gehöre „das Erscheinungsbild, also selbstverständlich auch Haar und Hautfarbe“. Die Haltung des Gerichts und weitere diskriminierende Anwendungspraxen der Polizei kritisiert die aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR).
Hendrik Cremer, Jurist vom DIMR, kommt in seiner aktuellen Untersuchung zu den verdachtsunabhängigen Personenkontrollen zu dem Schluss: "Die Norm suggeriert, dass sich der Aufenthaltsstatus eines Menschen an physischen Merkmalen erkennen lässt." Ein Umstand, den zahlreiche Organisationen als menschenverachtend kritisieren.
Laut Cremer versößt die Befugnis der Bundespolizei gegen Artikel 3 Absatz 3 im Grundgesetz sowie gegen europäische und internationale Menschenrechtsbestimmungen zu diskriminierenden Personenkontrollen. Demnach ist es der Polizei untersagt, bei anlasslosen Personenkontrollen das phänotypische Erscheinungsbild eines Menschen als Auswahlkriterium heranzuziehen.
Zudem weist der Autor der Studie auf gesellschaftliche Konsequenzen hin: So habe das Handeln von Polizisten – als Staatsgewalt – eine Außenwirkung, "die bestehende Stereotype in der Gesellschaft in besonderem Maße bekräftigen kann". Die Betroffenen würden öffentlich in einen kriminellen Kontext gestellt, wodurch Stereotype bei Außenstehenden in besonderem Maße bekräftigt werden könnten. Dies gelte umso mehr, als die Polizei in der Regel nur dann Personen kontrollieren darf, wenn ein konkreter Anlass besteht. In der Regel dürfen Außenstehende also davon ausgehen, dass sich eine Person verdächtig gemacht hat, wenn sie kontrolliert wird.
"Es sind die gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen der Polizei, die auf diskriminierendes Handeln angelegt sind", erklärt Cremer weiter und fordert: "Paragraf 22 Absatz 1a muss gestrichen werden." Entsprechende Gesetzesbestimmungen auf Länderebene müssten ebenfalls überprüft und aufgegeben werden.
Von Ferda Ataman, MDI
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.