"Bösartig" und "unerträglich" – selten gab es so heftige Reaktionen auf eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag wie im März 2018. Die AfD hatte sich nach der Zahl der Menschen mit schwerer Behinderung in Deutschland erkundigt (Drucksache 19/1444) und Migration, Behinderung und Inzest miteinander in Verbindung gebracht. Mehrere Sozialverbände zeigten sich entsetzt.
Eine Recherche des MEDIENDIENSTES zeigt nun: Die Anfrage war nur ein Beispiel dafür, wie die AfD im Bundestag arbeitet – wenn auch ein besonders drastisches. Zum einen stellt die Partei möglichst oft eine Verbindung zu Einwanderung oder Asyl her. Zum anderen versucht sie, mit ihren Anfragen über das Parlament hinaus Berichte in den Medien zu provozieren.
Seit einem halben Jahr ist die AfD Teil des Deutschen Bundestags. Dort kann sie Anfragen stellen, auf die die Bundesregierung antworten muss. Der MEDIENDIENST hat alle Kleinen Anfragen der AfD in der bisherigen 19. Wahlperiode ausgewertet (235 Anfragen). Diese wurden dann mit den Anfragen der anderen Oppositionsparteien (FDP, Linke und Grüne) verglichen (insgesamt 975 Anfragen).
Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:
- Etwa jede zweite AfD-Anfrage stellt Bezüge her zu den Themen Migration oder Integration (45 Prozent).
- In den Bereichen Innere Sicherheit, Kultur oder Europapolitik sind Migrationsbezüge besonders häufig.
- Auch in Bereichen, in denen das Thema sonst kaum eine Rolle spielt, bezieht sich die AfD häufig auf Zuwanderung, zum Beispiel beim Thema Gesundheit.
- In den Bereichen Wirtschaft, Arbeit, Bildung oder Gesundheit stellt die AfD weniger Anfragen als alle andere Fraktionen.
Link zur Infografik (Stand: Ende Mai 2018)
Für diese Recherche wurden die Kleinen Anfragen der AfD, FDP, der Linkspartei sowie der Grünen im Bundestag ausgewertet (19. Wahlperiode, Stand: Ende Mai 2018). Gezählt wurden alle Anfragen, die direkt oder innerhalb anderer Themen ("indirekt") nach Migrations- oder Integrationsthemen fragten. Zum Beispiel waren das Anfragen mit folgenden Themen: Migranten, Arbeitsmigration, Ethnische Gruppen, Internationale Kriminalität, (doppelte) Staatsangehörigkeit, Islam oder Deutsche im Ausland. Eine vollständige Liste der verwendeten Schlagwörter findet sich hier.
> Liste der ausgewerteten Anfragen
> Alle AfD-Anfragen im Volltext (pdf-Datei, 40 Mb)
Häufiger Bezug zu Migration und Integration
In manchen AfD-Anfragen nehmen die Bezüge zu Migration und Flüchtlingen mitunter bizarre Züge an. So fragte die AfD im März 2018, ob die Sicherheit an deutschen Flughäfen gefährdet sei durch das Verstecken gefährlicher Gegenstände unter Kopfbedeckungen. Ausdrücklich bezieht sich die Partei dabei auf Kopftücher und Burkas (19/1325). Auch im Bereich Gesundheit wird Zuwanderung häufig als Gefahr dargestellt. So wollte die AfD in zwei Anfragen wissen, wie sich Krankheiten wie Tuberkulose, HIV oder Masern durch die "massenhafte Einwanderung" entwickelt hätten. Eine andere Anfrage (19/1075) erkundigt sich nach Todesfällen durch vermeintlich "mangelnde Sprach- und Fachkenntnisse" ausländischer Ärzte.
"Die AfD ist als Anti-Einwanderungspartei stark geworden", sagt Matthias Quent, Politikwissenschaftler am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Sie dürfte also mit ihrer Arbeit im Bundestag die Erwartungen ihrer Wählerschaft erfüllen. Die Partei versuche ganz bewusst, "das Thema Migration in alle anderen politischen Bereiche zu entgrenzen", so Quent. Sie wolle einen "Masterframe" kreieren, dem alle anderen Themenbereiche untergeordnet würden.
Provokation statt Parlamentsarbeit
Andere Politikbereiche kommen in den Anfragen der AfD vergleichsweise selten vor. Zur Wirtschafts- oder Bildungspolitik stellt sie weniger Anfragen als alle anderen Oppositionsparteien. Außerdem scheint die Partei die Kleinen Anfragen zu bevorzugen. Während sie, nach der Linkspartei, die zweitmeisten Anfragen gestellt hat, liegt sie zum Beispiel bei Parlamentsanträgen weit hinter den anderen Parteien.
Der AfD gehe es bei ihren Anfragen nicht um sachbezogene Debatten im Parlament, so der Politikwissenschaftler Quent. Vielmehr versuche sie über Anfragen im Parlament, aber auch über Beiträge in Sozialen Netzwerken, die öffentliche Debatte zu beeinflussen.
Das sieht auch der Politikwissenschaftler Bernhard Weßels so. Er hat in einer Studie mit anderen Politikwissenschaftlern die Arbeit der AfD in den Landtagen untersucht. Mit ihren Bundestagsanfragen verhalte sich die AfD sehr ähnlich wie bereits zuvor in den Landtagen. Die AfD versuche, Anfragen mit "Nachrichtenwert" zu produzieren und darüber in die Berichterstattung zu gelangen.
Das Thema Migration sei für dieses Vorgehen besonders geeignet, so Weßels, da sich Ängste und Befüchtungen in der Bevölkerung hier am einfachsten mobilisieren ließen. Der Politikwissenschaftler Quent sieht noch ein weiteres Motiv für dieses Vorgehen: Mit dem "zwanghaften Aufrechterhalten migrationspolitischer Fragen lenkt die AfD von ihren sachpolitischen Defiziten und Uneinigkeiten ab, etwa in sozialen Themen." Der Erfolg der AfD hänge davon ab, wie gut es ihr gelinge, den anderen Parteien ihren "Masterframe Migration" überzustülpen, so Quent.
Von Andrea Pürckhauer und Carsten Janke
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.