MEDIENDIENST: Immer mehr Politiker fordern eine sogenannte Obergrenze für Flüchtlinge. Lässt das deutsche und internationale Asylrecht eine solche Grenze zu?
Dr. Anuscheh Farahat: Die Einführung fester Kontingente für Asylberechtigte ist grundsätzlich problematisch, weil das Recht auf Asyl ein individuelles Recht ist. Das heißt, jeder Mensch, der als Asylsuchender nach Deutschland kommt, hat Anspruch auf die individuelle Prüfung seines Antrags und kann nicht ohne Weiteres zurückgewiesen werden. Das sieht sowohl das deutsche Grundgesetz als auch die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union (EU) vor. Eine „Obergrenze“ würde hingegen bedeuten, dass Staaten ab einer bestimmten Zahl sagen könnten: Die Anträge, die jetzt kommen, werden nicht weiter geprüft. Das wäre nicht mit dem individuellen Recht auf Asyl vereinbar. Auch das Völkerrecht hat hier sehr klare Regelungen: Der Grundsatz der „Nichtzurückweisung“ laut Genfer Flüchtlingskonvention begründet zwar nicht das Recht auf Asyl, wohl aber den Anspruch darauf, die Schutzwürdigkeit individuell prüfen zu lassen. Mit einer Obergrenze würde die Bundesregierung daher nicht nur gegen das deutsche und europäische Recht, sondern auch gegen das Völkerrecht verstoßen.
Diskutiert wird auch über Änderungen im Grundgesetz, um das Recht auf Asyl einzuschränken. Wie wahrscheinlich ist eine solche Verfassungsreform?
Grundsätzlich gilt: Änderungen im deutschen Asylrecht sind nur möglich, wenn sie mit dem europäischen Recht vereinbar sind. Dafür müssen drei Aspekte gewährleistet sein: Erstens muss das Asylrecht als individuelles Schutzrecht ausgestaltet sein. Zweitens muss das Asylverfahren rechtsstaatlichen Prinzipien folgen. Dazu gehört auch, dass Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt wurde, rechtliche Schritte dagegen einleiten können. Drittens muss die Versorgung während des Verfahrens bestimmten Mindeststandards entsprechen. Das heißt, dass Betroffene die Möglichkeit haben müssen, auch in dieser Zeit in Würde zu leben. Diese drei Grundpfeiler des europäischen Asylrechts sind für alle EU-Staaten verbindlich – unabhängig von nationalen Regelungen. Eine Änderung des deutschen Grundgesetzes wäre daher weder sinnvoll noch zulässig. Darüber hinaus hätte sie auch nicht den gewünschten Effekt, dass weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen.
Prof. Dr. ANUSCHEH FARAHAT ist Professorin für Öffentliches Recht, Migrationsrecht und Menschenrechte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie leitet die Forschungsgruppe „Transnationale Solidaritätskonflikte“ und ist Senior Research Affiliate am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.
Warum nicht?
Die Vorstellung, dass Menschen, die vor einem Konflikt fliehen, wissen, wie das deutsche Grundgesetz aussieht, ist absurd. Flüchtlinge kommen nach Deutschland, weil sie Schutz suchen und hoffen, hier sicher leben zu können – nicht, weil sie das deutsche Asylrecht kennen. Hinzu kommt, dass die meisten von ihnen nicht nach Artikel 16a des Grundgesetzes Schutz erhalten, sondern nach europäischen Richtlinien, der Genfer Flüchtlingskonvention oder der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Annahme, eine Grundgesetzänderung könnte zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen und Anerkennungen führen, ist also pure Augenwischerei.
Der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) hat gefordert, das deutsche Asylrecht den „niedrigeren Standards“ in anderen europäischen Ländern anzupassen. Wie sehen die rechtlichen Regelungen dort aus?
Der Begriff „niedrigere Standards“ ist irreführend. Denn sowohl die Gründe, nach denen ein Flüchtling Asyl erhält, als auch die Unterbringung und das Asylverfahren sind europaweit einheitlich geregelt. Einige EU-Staaten wie zum Beispiel Griechenland können diese Standards nicht mehr einhalten, weil die Behörden mit der hohen Zahl von Asylanträgen überfordert sind. Das heißt aber nicht, dass die Standards dort nicht mehr gelten. Was Herr Söder dagegen mit niedrigeren Standards meinen könnte, ist die unterschiedliche Höhe von Sozialleistungen für Asylbewerber. Die Vergabe dieser Leistungen ist nicht europarechtlich geregelt, dafür aber durch das deutsche Verfassungsrecht.
Welche Regelungen sieht das deutsche Recht vor?
Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 entschieden, dass die Kürzung von Sozialleistungen unterhalb des Existenzminimums nur dann zulässig ist, wenn „sachliche Gründe" dafür sprechen. Migration zu steuern und Deutschland als Zielland weniger attraktiv zu machen, wurde vom Gericht ausdrücklich nicht als sachlicher Grund anerkannt. Will die Bundesregierung die Leistungen für Asylbewerber kürzen, müsste sie sich also über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinwegsetzen. Darüber hinaus würde sie gegen die Menschenwürde handeln, die die Grundlage für das Existenzminimum bildet und im Grundgesetz besonders geschützt ist.
Vorausgesetzt, die Bundesregierung beschließt Reformen, die gegen geltendes Asylrecht verstoßen: Welche Konsequenzen hätte das für Deutschland?
Verstoßen die Reformen gegen das europäische Recht, können sie auf zwei Wegen strafrechtlich geahndet werden. Am wahrscheinlichsten ist der Weg über das Asylverfahren. Erhält ein Asylbewerber einen Ablehnungsbescheid, kann er Widerspruch einlegen. Der Fall wandert dann vor das Verwaltungsgericht, das die Entscheidung überprüft. Hält das Verwaltungsgericht die Regelung für europarechtswidrig, ist es gehalten, den Fall dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Bestätigt dieser den Verstoß, darf die nationale Regelung nicht angewendet werden. Der zweite Weg ist das Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission, bei dem auch Bußgelder gegen Deutschland verhängt werden können. Bei Verstößen gegen das Völkerrecht ist eine Ahndung dagegen schwierig, weil es keine Instanz gibt, bei der Individuen die Verletzung der Flüchtlingskonvention einklagen können. Allerdings ist es möglich, einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend zu machen.
Und was passiert, wenn ein neues Gesetz gegen das Grundgesetz verstößt?
Dann kann das vor dem Bundesverfassungsgericht geprüft werden, das das neue Gesetz im Zweifel für nichtig erklären kann. Eine solche Überprüfung kann in verschiedenen Verfahren erfolgen, zum Beispiel durch eine individuelle Verfassungsbeschwerde oder durch die Vorlage eines Verwaltungsgerichts.
Interview: Jennifer Pross
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