Ein Passant, der Kinder verfolgt und ihnen droht, das Kopftuch herunterzureißen. Internetnutzer*innen, die davon schreiben, die festliche Ramadanbeleuchtung in der Frankfurter Innenstadt anzuzünden. Ein Neonazi, der mit einem Gewehr durch die Wohnungstür seiner muslimischen Nachbar*innen schießt – drei Beispiele für Anfeindungen, die Muslim*innen in Deutschland in den letzten Monaten erlebten. Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschland weit verbreitet. Nach islamistischen Terrorangriffen zeige er sich besonders offen, sagen Expertinnen im Gespräch mit dem MEDIENDIENST.
Muslimfeindliche Straftaten stark gestiegen
Im Jahr 2023 registrierte die Polizei 1.464 islamfeindliche Straftaten. Die Zahl hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Rund 83 Prozent der Straftaten waren politisch rechts motiviert. Bereits Ende September 2023 war die Zahl der islamfeindlichen Straftaten höher als im gesamten Vorjahr. Besonders stark stieg die Zahl dann nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Auch kontaktierten danach deutlich mehr Menschen als zuvor Beratungsstellen wegen antimuslimischer Vorfälle, wie die zivilgesellschaftliche Allianz gegen Muslimfeindlichkeit Claim berichtete.Quelle
Muslime unter Generalverdacht
"In den ersten Wochen nach dem Angriff der Hamas auf Israel machte sich in Deutschland neben den antisemitischen Anfeindungen auch eine antimuslimische Stimmung breit", sagt die Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema. Auf hochproblematischen Demonstrationen feierten einige Muslim*innen den Angriff auf Israel. Bei den anschließenden Debatten hätten sich aber viele Muslim*innen unter Generalverdacht gefühlt. "Sogar Schüler*innen wurden von ihren Lehrkräften gefragt, wie sie zur Hamas stehen – also ob sie Terroristen und Massaker an Frauen und Kindern befürworten", berichtet Cheema. Auch dass Politiker wie Robert Habeck (Grüne) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) Muslime dazu aufriefen, sich vom Terror der Hamas zu distanzieren, sei für viele frustrierend gewesen. "Das vermittelt den Eindruck: Ich muss mich immer neu beweisen. Ich bin als Deutscher erst akzeptiert, wenn ich mich von Terroristen distanziere," sagt Cheema.
Dass Muslim*innen häufig für das Verhalten von anderen Gläubigen verantwortlich gemacht werden, zeigt auch eine nicht-repräsentative Befragung von Claim aus dem Frühjahr 2023. Im Vergleich zu den ersten Wochen nach dem Angriff der Hamas sei die antimuslimische Stimmung beispielsweise an Schulen mittlerweile etwas weniger aufgeheizt, so Cheema.Quelle
Weitere Zahlen und Fakten finden Sie in unserem Dossier >> Antimuslimischer Rassismus.
Jeder zweite stimmt muslimfeindlichen Aussagen zu
52 Prozent der Menschen in Deutschland empfinden den Islam als bedrohlich, wie der aktuelle Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung zeigt. "Das ist keine Momentaufnahme", sagt die Religionsexpertin der Stiftung, Yasemin El-Menouar. "Muslimfeindliche Aussagen haben seit rund zehn Jahren eine permanent hohe Zustimmung." Die Einstellung gegenüber Muslim*innen in Deutschland sei nach dem Angriff der Hamas demnach nicht plötzlich gekippt. "Die bestehenden Ressentiments äußerten sich nur offener – in den sozialen Medien, auf der Straße, am Arbeitsplatz, bei Anfeindungen und Straftaten."Quelle
Ein feindliches Klima und der Anstieg antimuslimischer Vorfälle und Straftaten können das Sicherheitsgefühl von Muslim*innen im Alltag stark einschränken, sagt Cheema. "Gerade sichtbar muslimische Menschen, besonders kopftuchtragende Frauen, sind im Alltag bedroht", sagt die Politikwissenschaftlerin. Anfeindungen träfen zudem auch Menschen, die keine Muslim*innen sind, aber als solche wahrgenommen werden – etwa, weil sie Türkisch, Arabisch oder Kurdisch sprechen. Der Anstieg der Zahlen bedeute für Betroffene aber auch eine gewisse Erleichterung. "Viele haben dadurch den Eindruck, dass ihre alltäglichen Erfahrungen in den Statistiken endlich sichtbar werden," so Cheema.
Wiederholte Rassismuserfahrungen könnten dazu führen, dass Muslim*innen sich von Deutschland abwenden, sagt El-Menouar. "Wenn man mit seiner Herkunft und Religion nicht akzeptiert wird, dann verliert die Gesellschaft diese Menschen", sagt die Forscherin. Besonders Jugendliche würden dann anfangen, sich stärker mit dem Herkunftsland ihrer Familie zu identifizieren. "Auch wenn sie nie dort waren, idealisieren manche diese Länder und übernehmen unhinterfragt Positionen von Politiker*innen dort."
Hohe Dunkelziffer vermutet
Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gab es im Jahr 2023 zum Thema antimuslimischer Rassismus 255 Beratungsanfragen, auch dort sind die Zahlen gestiegen."Die bekanntgewordenen Fälle bilden vermutlich nur die Spitze des Eisbergs," sagt El-Menouar. Die gesellschaftliche Sensibilität für muslimfeindliche Diskriminierung und die Meldebereitschaft nähmen zwar zu, seien aber weiterhin zu gering. Einer Studie der Europäischen Grundrechteagentur zufolge melden in Deutschland nur zwölf Prozent der Betroffenen antimuslimische Vorfälle, beschweren sich oder erstatten Anzeige. "Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie sich antimuslimischer Rassismus genau äußert," sagt Cheema. Es brauche daher einen Ausbau von Melde- und Beschwerdestellen, mehr Monitoring und weitere Studien.Quelle
Miriam Kruse
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