MEDIENDIENST: Nach dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau im Februar 2020 hat die Bundesregierung eine Gruppe von Expert*innen beauftragt, eine Bilanz zur Muslimfeindlichkeit in Deutschland zu erstellen. Nach zweieinhalb Jahren legen Sie nun einen 400 Seiten umfassenden Bericht vor. Wie sieht antimuslimischer Rassismus hierzulande aus?
Mathias Rohe: Für viele Menschen, die muslimischen Glaubens sind oder als solche wahrgenommen werden, gehört antimuslimischer Rassismus zum Alltag. Er äußert sich zum einen durch offene Anfeindungen und Angriffe. Er ist aber auch bis in die Mitte der Gesellschaft verwurzelt in Form von Vorurteilen, Abgrenzung und Zurückweisung. Das spiegelt sich auch in strukturellem Rassismus wider: Muslim*innen werden in allen Lebensbereichen diskriminiert oder ausgeschlossen - auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder in der Bildung. Das hat teils massive Auswirkungen auf die Betroffenen und gefährdet den so notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Hat Muslimfeindlichkeit in den letzten Jahren zugenommen?
Die Werte sind auf sehr hohem Niveau konstant geblieben. So fordert in Befragungen beispielsweise eine Mehrheit, dass die Religionsfreiheit für Muslim*innen eingeschränkt wird. Aus empirischen Studien wissen wir, dass ein großer Teil der muslimischen Bevölkerung Diskriminierungserfahrungen macht. Frauen mit Kopftuch und einem türkischen Nachnamen müssen beispielsweise viel mehr Bewerbungen abschicken, um zu einem Jobgespräch eingeladen zu werden als gleichqualifizierte Bewerberinnen ohne Kopftuch, und beide mehr als Bewerberinnen mit deutschem Namen.
Prof. Dr. Mathias Rohe lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen. Der Jurist und Islamwissenschaftler ist Gründungsdirektor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa (EZIRE). Er ist zudem einer der Koordinatoren des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit (UEM).
Woran liegt es, dass Muslimfeindlichkeit so stark verbreitet ist?
In einem Teil der Gesellschaft haben wir es mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu tun, die sich in der Abwertung verschiedener Gruppen äußert und in der Überzeugung mündet, dass Muslim*innen rückständig, intolerant und „die anderen“ schlechthin seien, die nicht ins Land passen. Das geht weit über die explizit muslimfeindliche AfD und ihre Unterstützerschaft hinaus bis in die Mitte der Gesellschaft. Darüber hinaus gibt es extreme Informationsdefizite.
Was sind das für Defizite?
Viele Menschen wissen nicht, wie unterschiedlich muslimische Haltungen sind oder wie die Alltagswelt von Muslim*innen aussieht. Da wird dann vorschnell verallgemeinert. Auch in Schulbüchern, Medien oder Unterhaltungsfilmen finden sich abwertende stereotype Darstellungen, einseitige Problemorientierungen oder Fehlzuschreibungen. Die deutsch-iranische Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur hat den Begriff von der „Islamisierung der Muslime“ geprägt. Wenn eine muslimische Person ohne Ticket fährt, ist es auf einmal „muslimisches Ohne-Ticket-Fahren“.
Was sind die häufigsten Vorurteile gegenüber Musliminnen und Muslimen?
Muslim*innen wird eher zugeschrieben, dass sie rückständig, intolerant und gewalttätig seien – vor allem den Männern. Frauen wird unterstellt, dass sie unterdrückt würden. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung sieht „den Islam“ als Bedrohung.
Welche Verantwortung haben Medien, wenn es um das Entstehen solcher Vorurteile geht?
In Medien spiegeln sich Einstellungen wider, die auch in der Bevölkerung vorhanden sind, sie setzen aber auch Themen selbst und können dabei Vorurteile verstärken. Wenn es um den Islam geht, thematisieren Medien besonders Problemlagen, Vorurteile werden auch noch in der Unterhaltung bestätigt. Wir haben erstmals eine breit angelegte Untersuchung von Unterhaltungsfilmen vorgenommen. Das Ergebnis war, dass auch in Filmen Stereotype sehr oft reproduziert werden. Mehr als die Hälfte der Produktionen beschäftigten sich mit Terroranschlägen, Radikalisierung oder dem 11. September, ein weiteres Drittel mit der Unterdrückung von Frauen oder kulturellen Differenzen. Moscheen erscheinen als bedrohliche Räume und nicht als Alltagsort.
In einer anderen Untersuchung haben Sie sich angeschaut, wie deutsche Medien über den Islam oder Muslim*innen berichten. Dabei haben Sie eine starke Zuspitzung auf Gewalt- und Konfliktthemen festgestellt.
Muslimbezogene Themen sind fast durchweg Problemthemen, im Fernsehen noch mehr als in Printmedien: Es geht um Terrorismus, Rückständigkeit, Unterdrückung. Natürlich müssen Medien Probleme benennen, aber es gibt hier extreme Fehlgewichtungen. Man pickt sich nur eine Gruppe raus, sieht aber in anderen Bereichen nicht so genau hin. Beim Thema organisierte Kriminalität wird in der Regel über Tatverdächtige aus mehrheitlich muslimischen Ländern gesprochen, viel weniger über deutsche oder italienische Tatverdächtige. Man redet über Parallelgesellschaften und denkt an Berlin-Neukölln, aber nicht an München-Bogenhausen oder andere gentrifizierte Stadtviertel.
Woran liegt das?
Das hat verschiedene Gründe. In Hintergrundgesprächen haben uns Journalist*innen geschildert, dass in vielen Chefredaktionen divers orientierte Themensetzungen nicht besonders populär sind und Zuspitzung eher gefragt ist. Manchmal gibt es ein bestimmtes Set an scheinbaren Expert*innen, die immer wieder befragt werden, weil sie plakative Zitate liefern, womöglich schein-authentisch, nach dem Motto: „Die kommen ja von da, die müssen es doch wissen.“ Von manchen Medien haben wir gehört, dass sie Shitstorms erhalten, wenn sie über muslimisches Alltagsleben schreiben. Oder sie nehmen sich vor, stärker „auf Volkes Stimme“ zu hören. Dagegen spricht ja an sich auch nichts. Aber wenn man dann muslimfeindliche Inhalte übernimmt und sie verstärkt, ist das fatal. Das führt zu einem Teufelskreis. Medien haben eine besondere Verantwortung.
Was empfehlen Sie, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen?
Wir schlagen vor, im Pressekodex des Deutschen Presserats Muslimfeindlichkeit explizit aufzunehmen. Außerdem sollten islambezogene Kompetenzen in der Aus- und Weiterbildung von Journalist*innen und die Diversität in den Redaktionen gestärkt werden. Oft fehlt es an Wissen über den Islam oder muslimisches Leben. Das sage ich ohne Kritik. Es gibt übrigens auch positive Beispiele und guten Willen in der Berichterstattung. Solche Ansätze sollten wir stärken.
In sozialen Netzwerken fällt Muslimfeindlichkeit noch viel drastischer aus, wie Sie in einer weiteren Datenanalyse festgestellt haben. Sie sprechen von einem „toxischen Diskursraum“. Dadurch könne Gewalt wie in Hanau befördert werden.
Geistige Brandstiftung müssen wir verhindern. Bei den Auswirkungen von Hassrede haben wir zwar keine harten Belege zu Kausalitäten, da braucht es mehr Forschung. Aber es gibt starke Vermutungen. Wir wissen beispielsweise, dass Terroristen wie der, der im norwegischen Utoya den Anschlag verübt hat, sich auch auf bestimmte Posts und Plattformen im Internet beziehen. Bei Hate Speech brauchen wir mehr Regulierung, auch unterhalb der Strafbarkeitsschwelle.
Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts widmet sich strukturellem Rassismus in staatlichen Institutionen – von der Schule bis zur Polizei. Was muss dort passieren?
Wir müssen uns jeden Bereich einzeln anschauen. Nehmen wir die Schule: In Schulbüchern wird noch viel antimuslimisches rassistisches Wissen weiter transportiert. Muslim*innen kommen in den Büchern am häufigsten im Zusammenhang mit den Kreuzzügen im Mittelalter vor. Wenn es um die heutige Zeit geht, dominieren Themen wie die Unterdrückung von Frauen oder religiöser Fundamentalismus. Wir empfehlen deshalb, Schulbücher und Lehrpläne flächendeckend zu überarbeiten. Muslimische Schüler*innen berichten außerdem, dass sie sich für ihre Religion erklären müssen, wenn irgendwo ein Terroranschlag war. Die Berliner ADAS-Studie zeigt, dass ein Teil der Lehrkräfte sich massiv diskriminierend gegenüber muslimischen Schüler*innen äußern. Unabhängige Beschwerdestellen an Schulen sind deshalb dringend notwendig.
Und wie sieht es bei der Polizei aus?
In der Polizei gibt es ähnliche Anteile von Muslimfeindlichkeit wie in der Bevölkerung. Das kann uns aber nicht zufrieden stellen, in staatlichen Institutionen müssen die Anteile geringer sein. Der Staat entscheidet schließlich über Alltagsleben. Wenn Polizist*innen Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag in Problemzonen verallgemeinern und Personen aufgrund äußerlicher Merkmale prinzipiell als Verdachtsfall ansehen, ist das ein Problem. Für angehende Beamt*innen sollten Kurse zu Antirassismus verpflichtender Teil der Ausbildung werden – auch außerhalb der Polizei. In allen staatlichen Institutionen gibt es ja auch Gutwillige, die wir mit solchen Maßnahmen unterstützen wollen.
Interview: Cordula Eubel
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.