Im Dezember 2014 ergab eine Umfrage von TNS Forschung für den Spiegel, dass von 1.000 Befragten jeder Dritte die Ansicht der selbsternannten "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) teilt, es gebe eine zunehmende "Islamisierung" Deutschlands. Im gleichen Zeitraum sagten 58 Prozent der Befragten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA, sie hätten Angst vor dem zunehmenden Einfluss des Islams in Deutschland.
Dazu passt eine Untersuchung des SVR von Mai 2015, wonach 70 Prozent aller Befragten die Zahl der in Deutschland lebenden Muslime massiv überschätzen: Fast ein Drittel der Befragten nahm an, dass ihre Zahl bei über 10 Millionen liegt. Dabei sind es laut amtlicher Statistik weniger als die Hälfte: Laut der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ ist Deutschland die Heimat von rund vier Millionen Muslimen. Laut der letzten Bevölkerungserhebung Zensus 2011 sind es sogar deutlich weniger.
Die Auffassung, Muslime und der Islam seien mit einer abendländisch-deutschen Kultur nicht zu vereinen, führte in den letzten Jahren immer wieder zu kontroversen Diskussionen. Vor allem Pegida-Anhänger berufen sich bei ihren Demonstrationen und im Internet auf diesen Standpunkt und versuchen, breite Bevölkerungsschichten gegen die angeblich fortschreitende "Islamisierung" zu mobilisieren. Das gelang vor allem in den neuen Bundesländern, wo nur zwei Prozent aller Muslime in Deutschland leben.
Auch in der aktuellen Flüchtlingsdebatte spielt der Islamisierungsgedanke eine Rolle. Bundeskanzlerin Angela Merkel geriet im September deswegen in die Kritik: In einem Bürgerdialog wurde sie von einer Frau gefragt, was die Bundesregierung unternehme, um Deutschland vor der "Islamisierung" durch muslimische Flüchtlinge zu schützen. Ihre (sinngemäße) Antwort, dass diese Angst nicht sein müsse, sorgte für ein breites Medienecho.
Einwanderer nach Deutschland kommen primär aus christlichen Ländern
Ob eine steigende Zahl von Muslimen automatisch mit einer "Islamisierung" einhergeht, ist zu hinterfragen. Doch zunächst einmal stellt sich die Frage: steigt die Zahl der Muslime in Deutschland wirklich so enorm, wie es einige vermuten? Ein Blick auf die Einwanderungszahlen des Statistischen Bundesamts, in der auch Asylbewerber gezählt werden, zeigt:
Weder die Wanderungszahlen des Statistischen Bundesamts von 2013 noch die vorläufigen Berechnungen für 2014 deuten darauf hin, dass Einwanderer vornehmlich Muslime sind. Im Gegenteil: Die Mehrheit der Einwanderer stammt aus christlich geprägten Ländern. Die Top-3 Herkunftsländer waren 2013 Polen (70.326 Einwanderer), Rumänien (49.440 Einwanderer) und Italien (32.232 Einwanderer). Nach Angaben des Auswärtigen Amts sind in Polen rund 89 Prozent der Einwohner christlichen Glaubens, in Rumänien sind es 93 Prozent und in Italien überwiegt die Anzahl derer, die sich als römisch-katholisch identifizieren – Muslime machen in Italien lediglich 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
2013 war das größte Herkunftsland außerhalb Europas das vom Bürgerkrieg heimgesuchte Syrien mit 16.700 Einwanderern – ein Land, in dem sunnitische Muslime die Mehrheit stellen. Die größte Gruppe unter den Muslimen in Deutschland, die Türken, verzeichneten 2013 hingegen mehr Ab- als Zuwanderung.
2014 stieg die Zahl der Einwanderer aus muslimisch geprägten Ländern
Die Zahlen des Statistischen Bundesamts zu Migration erscheinen grundsätzlich etwas verzögert. So sind die aktuellsten Angaben für das Jahr 2014 nach wie vor lediglich vorläufige Berechnungen. Daraus geht hervor: Rumänien (75.040 Einwanderer) ist auf Platz eins unter den Herkunftsländern. Allerdings steht Syrien (61.982 Einwanderer) diesmal an zweiter Stelle. Der starke Anstieg ist auf die Eskalation der politischen Lage in Syrien zurückzuführen und wird sich 2015 weiter fortsetzen. Nach Syrien folgen die bereits im Vorjahr stark vertretenen Länder Polen (58.500) und Italien (36.556) als Top-Sendeländer. Die Zahl der in Deutschland lebenden Türken schrumpfte unterdessen auch 2014 weiter.
Dass islamische Einwanderung nach Deutschland – vor allem aufgrund der anhaltenden Situation in Syrien – weiter zunimmt, ist richtig. Nicht nur in Syrien, sondern auch in anderen Ländern mit muslimischer Mehrheit, zum Beispiel in Albanien, dem Kosovo oder Afghanistan, hat sich die Zahl der Einwanderer nach Deutschland im Vergleich zu 2013 teilweise enorm erhöht. Aber in Anbetracht der gesamten Einwanderungszahlen von einer Islamisierung Deutschlands zu sprechen, scheint unzulässig.
2013 stammten 76 Prozent aller Einwanderer aus dem vorwiegend christlich geprägten Europa, nur 24 Prozent stammten aus dem außereuropäischen Ausland. 2014 hat sich die Zusammensetzung zwar geändert, aber muslimische Einwanderer sind noch immer in der Unterzahl: Ein Drittel stammen voraussichtlich aus dem außereuropäischen Ausland, 67 Prozent kommen weiterhin aus dem europäischen Ausland. Kurz gesagt: Auch 2014 kamen zwei Drittel der Einwanderer aus vorwiegend christlichen Ländern.
2015 sind die Hauptherkunftsländer der Flüchtlinge muslimisch geprägt und damit wird die Zahl der Muslime in Deutschland steigen. Doch die Flüchtlingszahlen sollten nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Kontext der gesamten Einwanderung bewertet werden. Dies gilt auch für die Sonderphase, in der sich die Einwanderung nach Deutschland aufgrund der Flüchtlingssituation derzeit befindet. Denn der Blick in die Geschichte zeigt, dass Deutschland solche Sonderphasen wiederholt erfahren hat.
Von Timo Tonassi
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