Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche zwischen SPD und CDU/CSU sind noch kein Koalitionsvertrag. Umstrittene Formulierungen und kontroverse Ergänzungen sorgen schon jetzt für Streit zwischen den potentiellen Regierungspartnern. Aus dem Sondierungspapier lässt sich jedoch eine Tendenz herauslesen: während die Einwanderung von Fachkräften gefördert wird, soll die Flüchtlingspolitik strenger werden.
Die wichtigsten vereinbarten Punkte zur Asylpolitik:
- Union und SPD "stellen fest", dass die Zuwanderung von Geflüchteten nicht die Zahl von 180.000 bis 220.000 pro Jahr übersteigen werde.
- Im Rahmen des Familiennachzugs zu subsidiär Geschützten sollen künftig nicht mehr als 1.000 Menschen pro Monat nach Deutschland kommen dürfen.
- Asylsuchende sollen künftig bis zur Entscheidung über ihren Antrag in sogenannten zentralen „Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“ (ANkER) bleiben.
- Staaten mit einer durchschnittlichen Anerkennungsquote von unter fünf Prozent sollen als „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft werden.
Führende Migrationsforscher sehen diese Entscheidungen kritisch: Einerseits gebe das Dokument wenig Auskunft darüber, wie die geplanten Maßnahmen umgesetzt werden sollen. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Integration vieler Geflüchteter dadurch erheblich erschwert wird.
Wie lassen sich Zuwanderungszahlen begrenzen?
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer stört sich an der Aussage, dass die Zuwanderung von Geflüchteten die Zahl von 180.000 bis 220.000 Zugänge nicht übersteigen werde, wie es im Sondierungspapier heißt. Zum einen ließen sich Migrationsbewegungen nur sehr bedingt vorhersehen und steuern. „Wie können wir sicher sein, dass aus Krisenherden wie etwa der Ostukraine in den kommenden Jahren nicht mehrere Hunderttausend Menschen zu uns kommen müssen, weil die Gewalt dort wieder zunimmt? Solche Versprechungen halte ich für problematisch“, sagt Oltmer.
Zum anderen fänden sich in der Vereinbarung kaum Hinweise darauf, auf welche Weise die Regierung die Zahl der nach Deutschland kommenden Geflüchteten begrenzen wolle. Zwar hätten sich Union und SPD darauf geeinigt, die Fluchtursachen bekämpfen und die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten verstärken zu wollen. Außerdem sollten die Außengrenzen der Europäischen Union besser geschützt werden. „Doch die Bundesregierung kann andere Staaten nicht vorbehaltlos in die Pflicht nehmen“, sagt der Migrationshistoriker.
Die geplanten Maßnahmen würden in die gleiche Richtung gehen wie zuvor das EU-Türkei-Abkommen und der EU-Aktionsplan für Libyen. „Das Problem ist: Diese Abkommen wurden beschlossen, ohne dass es eine öffentliche politische Diskussion über ihre Tragweite und humanitäre Kosten gab“, so Oltmer.
Persönliche Krisen und Konflikte drohen
Auch für Geflüchtete, die bereits in Deutschland sind, sollen strengere Regeln gelten. So wird die Deckelung des Familiennachzugs dazu führen, dass die Betroffenen viele Jahre mit großer Ungewissheit darauf warten müssen oder gar nicht mehr mit ihren Angehörigen vereint werden, sagt Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR): „Bereits die gegenwärtige Aussetzung des Familiennachzugs ist mit dem grund- und menschenrechtlich verbrieften Recht auf Familie und der UN-Kinderrechtskonvention nicht in Einklang zu bringen“, sagt Cremer.
Der Familiennachzug habe eine entscheidende integrationsfördernde Rolle: Zwar würden im Zuge des Familiennachzugs die Herausforderungen für die Kommunen zunehmen – etwa wenn es darum gehe, diese Menschen unterzubringen. „Zugleich werden aber durch den Familiennachzug die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die Menschen in diese Gesellschaft integrieren können“, so Cremer.
Auch die geplante Reform des Aufnahmesystems stößt bei den Experten auf Kritik. Zwar sei die Idee, Asylsuchende in zentralen Aufnahmestellen unterzubringen, in denen sie durch alle Etappen des Asylverfahrens begleitet werden, nicht falsch, sagt der emeritierte Politikwissenschaftler Dietrich Thränhardt. In der Schweiz, wo ein ähnliches System bereits seit 2012 in Kraft ist, könnten 80 Prozent der Anträge innerhalb von zwei Wochen entschieden werden. „Dabei werden Asylsuchende ausführlich über ihre Rechte informiert und haben Anspruch auf eine unabhängige rechtliche Beratung“, sagt Thränhardt.
Das Problem: Mit der Dauer der aktuellen deutschen Asylverfahren würden Antragsteller vermutlich monatelang in diesen Aufnahmezentren bleiben müssen. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit für Asylanträge lag im dritten Quartal 2017 noch bei zehn Monaten. Selbst Antragsteller aus dem „sicheren Herkunftsstaat“ Albanien müssen im Schnitt fast vier Monate auf eine Entscheidung warten.
„Die Erfahrung hat gezeigt, dass Krisen und Konflikte vorprogrammiert sind, wenn viele Asylsuchende in großen Gemeinschaftsunterkünften über eine längere Zeit untergebracht werden“, mahnt der Migrationspolitik-Experte Hannes Schammann. Die geplanten ANkER-Zentren könnten somit die sozialen Spannungen erhöhen, ohne dass die betroffenen Kommunen ein Mitspracherecht hätten.
„Viel sinnvoller wäre es, gemeinsam mit den Kommunen neue Verteilungsmechanismen zu planen, die es einzelnen Gemeinden ermöglichen, die Aufnahme und Integration von Geflüchteten von Anfang an selbst zu organisieren“, so Schammann. Durch das geplante System würden Asylbewerbern und Kommunen gleichermaßen Steine in den Weg gelegt: "Beide sind zur Passivität verdammt. Das schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt kurz- und vor allem langfristig."
Von Fabio Ghelli
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